Kapitel 34 - Die Seite des Monsters

27K 2.3K 322
                                    

Ich steige von Harrys Motorrad ab und klemme mir den Geigenkoffer unter den Arm. Mal wieder bin ich durchgefroren, doch das scheint immer so zu sein, wenn man im Dezember durch die eiserne Kälte saust. Vor allem weil Harry vom langsamen Fahren wirklich noch nichts gehört hat. Manchmal denke ich, er macht das mit Absicht, doch ich denke auch, er hat einfach nur sein Vergnügen an der Geschwindigkeit.

„Danke", sage ich zu ihm, während er noch vor mir steht. Ich lächle. „Ich hoffe, ich habe dir deine Termine nicht ganz durcheinander gebracht."

Ich sehe wie er gerade etwas sagen will, doch plötzlich ertönt ein Poltern aus unserem großen Haus. Ich drehe mich um und weiß sofort, was mich gleich wieder erwarten wird.

„Was war das?", fragt Harry und sieht mit enger Stirn zu unserem Haus.

Hektisch schiebe ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und laufe rückwärts in Richtung des Tors. „Nichts!", rufe ich durch den mittlerweile stärker gewordenen Regen. „Pass auf, dass du vorsichtig fährst!" Ich lasse Harry skeptisch zurück und hoffe, dass er einfach wegfahren wird. Ich öffne das Tor und laufe über den Kiesweg zur Haustür. Von drinnen höre ich schon das Geschrei. Vor der Tür atme ich tief ein und aus. Okay, ich kenne das doch. Ich packe das. Wie jedes Mal, wenn es gewittert. Entschlossen schließe ich die Tür auf.

Ein lauter Knall ertönt und dann Geschrei meiner Mutter. „Gus!", schreit sie. „Bitte hör mir doch zu!"

Ich stelle den Koffer ab und laufe widerwillig durch den Flur ins Wohnzimmer. Papa ist gerade dabei alle Bilder von den Wänden zu reißen und schmeißt sie aggressiv zu Boden.

„Nein!", brüllt er und schupst meine Mutter von sich weg. „Wie soll ich mit dir reden, wenn du eine verdammte Lügnerin bist? Ihr alle seid Lügner!"

Meine Mutter weint hysterisch und versucht ihn davon abzuhalten, noch mehr Bilder zu zerstören. „Wir belügen dich nicht! Ich liebe dich, bitte glaube mir doch!"

„Verpiss dich!", schreit er und schupst sie weiter weg. Sie knallt gegen die Wand.

Jetzt schreite ich ein, obwohl ich weiß, dass ich nicht viel ausrichten kann. „Papa!", rufe ich und stelle mich vor Mama. „Beruhige dich! Wir wollen dir nichts Böses!"

„Du auch noch!", schreit er mich an und schmeißt ein Bild nach mir. Ich ducke mich schnell und es zerspringt über meinem Kopf an der Wand. „Niemandem kann ich vertrauen! Ihr seid daran Schuld, dass er tot ist!"

Ich beginne zu weinen. Ihn so zu sehen tut weh. Es passiert immer bei Gewittern. Ein weiterer Grund, weshalb ich Gewitter verabscheue. „Bitte!", flehe ich ihn an. „Du musst dich beruhigen! Du willst uns nichts Böses antun!"

„Mein Bruder ist tot und du denkst, ich lasse einfach zu, dass ihr mir das vorenthaltet?", brüllt er wütend.

„Wir enthalten es dir nicht vor! Wir haben es dir schon etliche Male gesagt, du vergisst es nur immer wieder! Bitte glaube mir doch!"

Seine Augen kneifen sich zusammen und ein lauter Donner ertönt. Er schreckt zusammen und hält sich die Ohren zu. „Nein!", schreit er gequält. „Ihr lügt!"

„Nein, Papa", schluchze ich und bleibe weiterhin vor Mama stehen, die hinter mir weint. „Du musst uns glauben! Sean ist schon seit Jahren tot!"

Plötzlich reißt er die Augen auf und stürmt auf mich zu. „Lüge!", brüllt er und erhebt die Hand.

Ich halte mir die Arme vors Gesicht und mache mich klein. Papas Schrei lässt mich wieder aufblicken. Mein Herz pocht schnell. Harry ist bei uns ihm Wohnzimmer und schupst ihn von mir weg. Dad torkelt ein paar Schritte zurück und scheint die Situation gar nicht zu verstehen. Mit großen Augen sieht er ihn an.

Harry geht einen Schritt zurück, kommt mir dadurch näher, als wolle er mich tatsächlich beschützen. Sein Atem geht schnell und seine Fäuste sind geballt.

Sprachlos betrachte ich ihn. Er ist nicht gegangen?

Ich denke für einen kurzen Moment, meine Mutter würde ihn rausschmeißen, doch sie tut nichts. Sie scheint selbst noch nicht ganz mit der Situation klarzukommen.

Mein Vater starrt Harry mit großen wütenden Augen an. Seine Fäuste ballen sich. „Du", knurrt Papa aggressiv. „Du warst es."

Ich verstehe die Situation nicht. Was meint er?

„Du hast ihn umgebracht!", brüllt Dad.

„Nein, Papa!", sage ich jetzt und sehe hinter Harrys Rücken hervor. „Du weißt nicht, was du da redest!"

„Nein, er ist der Mörder!", brüllt Papa und zeigt auf Harry. „Ich weiß es! Und dafür wird er bezahlen!" Aggressiv stürmt er auf Harry zu.

Doch Harry reagiert schnell und geht schnell – mich hinter sich herziehend – von ihm weg. „Einen Scheiß habe ich getan!", brüllt er Papa an, der jetzt wie ein wildgewordenes Tier auf der anderen Seite der Couch steht, die eine Barriere zwischen uns bildet.

„Du bist der Mörder", zischt mein Vater. „Ich weiß es. Ich wusste es schon immer."

Verwirrt betrachte ich ihn. Zwar ist er immer schon ausgerastet, wenn Mama ihm bei Gewittern sagen musste, dass sein Bruder tot ist, doch er hat nie jemanden als Mörder beschuldigt. Wie kommt er nur darauf, Harry als Mörder zu betiteln? Sein Bruder ist vor mehr als zwanzig Jahren gestorben.

„Mama", sage ich weinend zu ihr. Sie steht wie benebelt im Raum. „Sag ihm doch, dass es nicht stimmt!"

Sie sieht mich an. Ich erwarte, dass sie einschreitet, doch sie tut es nicht. Sie will Papa in dem Glauben lassen, dass Harry der Mörder ist?

„Mama!", flehe ich nochmal, fassungsloser.

„Sei still!", schreit Papa. „Wie kannst du auf der Seite dieses Monsters stehen?"

Ich sehe ihn entsetzt an. „Was? Papa, komm wieder zur Besinnung! Bitte!"

Harry zieht mich weiter hinter sich, weil Dad sich wieder anspannt. Seit wann würde er sich je vor mich stellen?

Er starrt Harry vernichtend an. „Lass meine Tochter los."

„Wohl kaum", gibt Harry zurück und stellt sich näher vor mich.

Ein kleiner Instinkt in mir schreit danach, hinter Harry zu verschwinden und mich auf die Seite meiner Familie zu stellen, doch ein größerer Instinkt hat das Gefühl, dass ich hier genau richtig bin. Meine Mutter will die Sache nicht aufklären und mein Vater rastet aus. Ich wäre die ganze Nacht mit ihnen hier, während es gewittert und würde mich unsicher fühlen, doch bei Harry ... Bei Harry ist es anders. Deswegen bleibe ich hinter ihm stehen und sehe mit verweinten Augen auf seinen Rücken.

Kurze Sekunden in einer drückenden Stille vergehen, dann stürmt Papa los. Er geht mit schnellen Schritten um die Couch, unmittelbar auf Harry zu. „Du nimmst mir nicht noch jemanden aus meiner Familie!", schreit er.

Doch noch bevor er bei uns ankommen kann, drückt Harry mich zur offenen Eingangstür. Kurz weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, jetzt mit ihm zu gehen. Aber es würde sich nicht richtig anfühlen, wenn ich es nicht tun würde, deswegen verschwinde ich aus dem Haus.

Harry knallt die Haustür hinter uns zu und hält sie zu. „Honor", sagt er und sieht mich an, wie ich total hektisch hinter ihm stehe. „Willst du gehen?"

Ich fasse mir an den Kopf und höre meinen Vater von drinnen fluchen und schimpfen. Meine Mutter höre ich auch. „Ich weiß es nicht!", sage ich überfordert. „I-Ich weiß nicht! E-Es-''

„Hey", sagt Harry und muss seinen Fuß an der Hauswand abstützen, damit die Tür weiterhin zubleibt. „Beruhige dich. Willst du gehen oder bleiben? Es ist deine Entscheidung, aber ich würde mich schnell entscheiden."

Schnell nicke ich und atme durch. „I-Ich", stottere ich und sehe auf die Tür. Dann sehe ich zu Harry. Ich folge meinem Instinkt. „Ich möchte gehen. Ja, ich möchte gehen."

Harry nickt und sieht ebenfalls zur Tür. Papa hat aufgehört daran zu rütteln und es ist still geworden. Immer noch konzentriert lässt er die Tür los und dreht sich zu mir um, geht zu seinem Motorrad. „Lass uns gehen, bevor er wieder ausrastet."

Schnell folge ich ihm.


Remember His StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt