Kapitel 87 - Tausend Tode

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Momente.

Momente, in denen ich glücklich war.

Der Tag meiner Einschulung. Der Tag, an dem ich das erste Mal mit meinen Eltern ein anderes Land bereiste. Der Moment, als ich das erste Mal die Violine spielte.

Momente, in denen ich unglücklich war.

Der Tag, an dem ich von der Schaukel fiel und für immer eine Narbe tragen würde. Der Tag, an dem ich meine erste schlechte Note schrieb. Der Tag, an dem Papa das erste Mal meinen Namen vergaß. Der Tag, an dem Grandma starb.

Momente, in denen ich starb.

Der Tag, an dem Harry nicht bei mir blieb.

Es ist ironisch. Eigentlich wusste ich schon, dass er gehen würde. Er hätte es nicht mal sagen müssen.

Er sagte es damals selbst. Als er das erste Mal durch mein Fenster kam, sagte er, ich würde Tode sterben, wenn ich ihn in mein Leben lasse.

Und das tue ich.

Ich sterbe gerade tausend Tode, wegen ihm. Ich sterbe einen Tod, als ich versuche mich in der Halle allein aufzurappeln. Ich sterbe einen Tod, als ich das Hotel verlasse, indem wir gemeinsam waren. Ich sterbe einen Tod, als ich in der Kälte allein nach Hause laufe. Ich sterbe einen Tod, als ich das Haus meiner Eltern sehe.

Sie habe ich ständig wegen ihm belogen.

Ich sterbe einen Tod, als ich das Haus betrete, mich eigentlich eine wohlige Wärme umgeben sollte, doch das tut es nicht. Ich sterbe nur ein weiteres Mal. Denn Wärme ist nichts, wenn Harry nicht bei mir ist.

Doch den allergrößten und schmerzvollsten Tod, sterbe ich, als ich mich ins Bett lege, die Decke ansehe und realisiere, dass ich gerade unendliche Tode gestorben bin, weil Harry mich verlassen hat. Die einzige Sache, die schlimmer ist, als die Tatsache, dass ich ihn verloren habe, ist die Realisation, dass ich ihn nie wirklich hatte.

Er hat mir nie gesagt, dass er mich liebt. Er hat mich zu selten gehalten und zu oft, war er jemand, der er eigentlich nicht war.

Eigentlich wusste ich, dass er mir das Herz bricht. Ich wusste es, doch ein kleiner Teil von mir hoffte, er würde es nicht tun.

Aber zu sagen, mein Herz wäre gebrochen, ist zu einfach. Das hier ist keine einfache Liebe, die ich überwinden muss. Das hier ist kein Liebeskummer. Das hier ist mehr. Das hier ist die Sehnsucht, nach meinem Leben. Harry ist mein Leben. Er ist meine zweite Hälfte.

Gott ... Wie soll ich je weiter atmen können? Ich kann nicht aufhören, ihn zu lieben, das weiß ich. Ich kann nicht einfach damit aufhören, ihn zu lieben, nur weil er mich nicht liebt.

Es ist so absurd.

So absurd und so ... einsam.

Und weil ich nichts mehr zu verlieren habe, denn ich habe schon längst alles verloren, was ich verlieren konnte, laufe ich am nächsten Morgen in schwarzen Klamotten die Treppen zum Esszimmer herunter, indem meine Familie sitzt und schon auf mich wartet.

Ich trauere. Ich trage schwarz, weil ich einen erneuten Tod sterbe, während ich meine Eltern und meine Großeltern glücklich am Tisch sitzen sehe. Können sie mich überhaupt sehen? Oder bin ich schon längst tot?

Ich habe schon heute Nacht um vier die Kraft zum Weinen verloren. Auch dann starb ich einen Tod.

„Honor", keucht meine Mutter entsetzt, als sie mich in den schwarzen Klamotten, tiefen Augenringen und verwuschelten Haaren im Türrahmen stehen sieht. Sie kommt auf mich zu und begutachtet mein Gesicht. „Was ist denn los, Liebling? Hast du geweint?"

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