Kapitel 15 - Standpauke

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Als ich von Harrys Motorrad absteige und auf das große graue Tor sehe, das den Eingang zu unseren Hof trennt, überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich habe auf einmal das Gefühl, ich müsste mich schlecht fühlen, weil Harry in heruntergekommen Verhältnissen lebt und ich in einem riesigen Haus mit riesigem Garten. Ich weiß, ich sollte mich nicht schlecht dafür fühlen, denn ich wurde hier hineingeboren, das ist nun mal das Zuhause, das meine Eltern mir bieten.

„Danke", sage ich leise zu Harry und streiche mir eine verirrte Strähne hinter mein Ohr. Ich traue mich nicht mal ihn anzusehen. Wahrscheinlich hasst er mich noch mehr dafür, dass meine Familie in solch einer Villa lebt.

Er startet wieder den Motor seines Gefährts und antwortet mir nicht mal, da ist er schon davon gefahren. Dass er kein Freund von vielen Worten ist, wird mir mit jeder Sekunde mehr bewusst, die ich mit ihm verbringe. Doch trotzdem bleibt die Frage Warum? Und ich frage mich, woher er wusste, wo ich wohne. Früher hatten wir nie mehr Kontakt wie heute und unsere Gespräche waren nicht wirklich ausschlussreich, sodass ich ihm hätte erzählen können, wo ich lebe. Vielleicht hat er es damals irgendwo mitbekommen, wer weiß.

Harry ist wieso ein Mysterium. Erst beleidigt er mich und lässt mich in der Kälte stehen, dann fährt er mich nach Hause. Und das obwohl ich Nein gesagt habe. Vielleicht hat er ja doch eine gute Seite. Doch das ist eher unwahrscheinlich und wäre reines Wunschdenken meinerseits. Es wäre zu schön, wenn man mit ihm normal reden könnte, sodass ich vielleicht etwas über seine Vergangenheit rausbekomme und endlich erfahre, was er so treibt und wieso, verflixt nochmal, er damals in der dritten Klasse einfach verschwunden ist.

Doch der Abend hat mir mehr als bewiesen, dass Harry nicht diese Art von Mensch ist, mit der man Kontakt haben möchte. Er ist gemein und unausstehlich.

Trotzdem kann ich mir so viele Vorwürfe machen, wie ich möchte, ich weiß jetzt schon, dass ich mir gleich eine Standpauke von Mama anhören kann. Eventuell noch von Papa, wenn er wach ist. Sie hassen es, wenn ich zu spät nach Hause komme und dann auch noch ohne Bescheid zu sagen.

Also gehe ich reumütig zu dem großen Tor und drücke auf den Knopf, wo Ealswith steht. Mama wird mir mehr als nur eine Standpauke halten.

„Hallo?", ertönt die Stimme von Mama in der Klingel.

„Ich bin's", gebe ich mich kleinlaut zu erkennen.

Kurz schweigt sie nur, dann höre ich, wie sie auflegt und das Tor öffnet. Oh je. Ich kann mich auf etwas gefasst machen. Ob sie mir vielleicht mehr vergibt, wenn ich ihr sage, wie grausam mein Abend war? Besser nicht. Wenn sie wüsste, wo ich war, wäre meine Strafe nur viel höher. Sie sollte besser auch nicht von Harry erfahren. Schon als ich klein war, mochte sie ihn nicht, genauso wie der Rest der Elternschaft, denn er war damals einfach der kleine Junge, der alle Kinder verprügelt hat.

Das Tor öffnet sich und ich laufe über den gepflasterten Weg durch unseren großen Garten mit den kunstvoll verzierten Büschen und hunderten von Blumen, die ich mit unserem Gärtner Jose eingepflanzt habe. Als ich an der Haustür ankomme, steht Mama schon mit verschränkten Armen und Schlafanzug im Türrahmen und tippt mit ihrem Fuß gereizt auf den Boden.

Mit gesenktem Kopf gehe ich an ihr vorbei ins warme Haus und mache mich schon auf das Schlimmste gefasst. Ich ziehe mir die Schuhe aus und spüre Mamas strengen Blick auf mir. Vielleicht sagt sie auch gar nichts und lässt mich einfach in mein Zimmer gehen, weil sie sieht, wie schäbig ich aussehe.

Ich will gerade die Treppen hochlaufen, da sagt sie: „Wo warst du?"

Seufzend drehe ich mich zu ihr um. „Ich habe mich verlaufen", lüge ich und sehe auf den Boden.

Remember His StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt