Kapitel 33 - Das letzte Mal

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„Du hast mich doch letzte Nacht auch einfach so besucht. Wieso darf ich das nicht auch? Außerdem bist du letzte Nacht gegangen, ohne dich zu verabschieden. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass du ohne Unfall nach Hause gekommen bist, so betrunken wie du warst."

Harry sieht mich mit erhobener Braue an. „Das ist also deine Ausrede? Du bist hergekommen, um zu sehen, ob ich es ohne zu verrecken nach Hause geschafft habe?"

Ich runzle die Stirn. „Hey, stell mich nicht als blöd dar. Du bist letzte Nacht mit der Ausrede du müsstest mir mein Namensschild bringen gekommen."

Er lacht leicht und sieht auf das Tuch in seinen Händen, das er in Desinfektionsmittel getränkt hat. „Was man sich nicht alles ausdenkt, wenn es scheiße kalt ist und man auch noch betrunken ist. Ich musste einfach irgendwo ins Warme, mehr nicht."

„Und da fährst du zu mir?", frage ich und beobachte, wie er das Tuch einfach ohne Hemmungen auf seine Wunde an der Stirn drückt. Ich verziehe schmerzhaft das Gesicht. Autsch. Das muss doch wehtun.

„Ich dachte eigentlich, du hättest interessantere Fragen, außer wieso ich zu dir gekommen bin. Interessiert dich nicht, wer dieser Bastard eben war?"

Ich zucke mit einer Schulter und sehe auf die Tischplatte. „Du würdest es mir doch sowieso nicht sagen."

„Stimmt."

„Sag mal", sage ich und sehe auf seine Wunden. „Das muss doch unheimlich wehtun. Ich würde das ein wenig vorsichtiger machen."

Er knüllt das Tuch zusammen und wischt die Reste vom angetrockneten Blut aus seinem Gesicht. Jetzt sieht er nicht mehr so brutal aus, doch trotzdem noch schlimm genug. Ich mag diesen Anblick nicht. „Okay, es wird Zeit für dich zu gehen", sagt er und steht auf. „Es sei denn du willst mit Diabo allein hier bleiben und ob ihm das gefällt, ist fraglich." Harry geht aus dem Wohnzimmer und ich folge ihm schnell.

„Wieso?", frage ich und stelle mich in den Türrahmen des Badezimmers, in das er geht. Stets darauf bedacht, nicht auf die Scherben zu achten. „Musst du noch irgendwo hin?"

„Ja", sagt er und dreht den Wasserhahn auf. Er hält seine Hände unters Wasser und wäscht sein Gesicht.

„Wohin?"

Er dreht den Wasserhahn wieder ab und trocknet sein Gesicht mit seinem Shirt. Ich beobachte ganz genau sein Gesicht und merke sofort, wie er auf das Regal vor sich sieht, wo mal ein Spiegel hang. Er sieht kurz darauf, als würde er tatsächlich in einen Spiegel sehen, doch dann dreht er sich schnell zu mir und kommt auf mich zu.

Genau vor mir bleibt er stehen.

Die Spannung baut sich innerhalb von Millisekunden auf. Plötzlich ist mir heiß und kalt gleichzeitig. „Bist du dir sicher, dass du das wissen willst?", fragt er leiser und ich erkenne ein kleines Grinsen auf seinen Lippen, als wüsste er ganz genau, welch eine Wirkung es auf mich hat, wenn er mir so nahe kommt. Allerdings sieht das Grinsen alles andere als freundlich aus.

Als wäre ich auf der Stelle festgefroren, stehe ich im Türrahmen und sehe zu ihm auf. Beinahe berührt meine Brust seine und das Blut beginnt in meinen Ohren zu rauschen. Ich kann den Geruch von Zigaretten vernehmen, während sein Atem auf mein Gesicht prallt. Ich muss schwer schlucken und frage beinahe eingeschüchtert von seiner Präsenz: „Will ich das denn?"

Leicht schüttelt er den Kopf. „Nein, Honor. Willst du nicht." Dann sieht er von mir weg und schupst mich ein wenig zur Seite. Sofort bin ich wieder im Hier und Jetzt. „Deswegen nimm dir deinen scheiß Koffer und verschwinde."

Ich atme tief ein und aus und versuche den Schauer zu ignorieren, der mir gerade über den Rücken kroch. „Kannst du mich vielleicht-''

„Nein", unterbricht er mich und zieht sich seine schwarze Jacke über. „Ich bin nicht dein bekackter Fahrdienst."

Und als hätte Gott uns ein Zeichen geschickt, beginnt es plötzlich laut zu donnern.

Ich zucke zusammen und mein Herz schlägt wild gegen meine Brust. Flehend sehe ich Harry an, weil er weiß, wie sehr ich Gewitter hasse. Es wäre eine Qual, wenn er mich so nach Hause laufen lassen würde.

„Das kannst du vergessen", raunt er und zieht sich seine Kapuze über. Er scheint mein Flehen gesehen zu haben. „Wegen so einem scheiß Gewitter, fahre ich dich nicht."

Ich seufze hoffnungslos und sehe auf den Boden. Es donnert erneut und das Licht des Blitzes scheint durch das kleine Fenster im Badezimmer, erleuchtet kurz den Flur. Erneut zucke ich auf. Gott, ich hasse es.

Harry atmet hörbar ein und aus. „Scheiße", flucht er leise, dann geht er an mir vorbei zur Tür. „Komm mit."

Ich drehe mich zu ihm um, beobachte perplex, wie er die Tür öffnet. „Du – Äh." Doch weil ich mir sicher bin, dass er sich nicht nochmal wiederholen möchte, schnappe ich mir schnell meinen Geigenkoffer und folge ihm die Treppen runter. „Danke, Harry!", rufe ich ihm schnell hinterher.

Ich höre ihn leise fluchen, als er nach draußen zu seinem Motorrad geht. Dann ruft er: „Das ist das letzte verdammte Mal, dass ich dich irgendwo hinfahre!" Er schiebt sein Motorrad zur Straße und setzt sich darauf.

Ich würde ihm gerne sagen, dass er das schon beim letzten Mal gesagt hat, aber damit würde ich wahrscheinlich nichts besser machen. Er mag es einfach nicht, nette Dinge zu tun, doch er tut sie trotzdem für mich, das reicht mir. Das ist einfach ein kleiner Beweis, dass es auch eine nette Seite in ihm gibt, egal wie sehr er dagegen ankämpft.

Als es nochmal donnert und die ersten Regentropfen auf die Erde fallen, setze ich mich schnell hinter ihn und halte mich beängstigt an ihm fest. Es ist mir unangenehm, dass Gewitter mich so einschüchtern, doch es war schon immer so und ich bin mir sicher, dass es auch immer so bleiben wird. Und ich bin mir sicher, dass es noch schlimmer wird, wenn ich erst mal Zuhause bin.

Denn Dad hasst Gewitter auch.

Harry startet den Motor, nachdem er sich seinen Helm aufgesetzt hat und tritt das Rad vom Ständer.

Ich rutsche noch näher an ihn heran und schlinge meine Arme fester um seinen Oberkörper. Bei Regen zu fahren, macht mich noch unsicherer. Und ohne Helm erst Recht.

„Honor", höre ich Harry durch seinen Helm knurren. Er spannt sich mehr an.

Jetzt fällt es mir wieder ein. Er will nicht, dass ich ihm so nahe komme. Das sagte er schon beim letzten Mal. „Ja?", frage ich und hoffe, er sagt mir nicht, ich soll ihn loslassen.

Zwei Sekunden vergehen. Ich spüre, wie er durchatmend, als müsste er sich beruhigen. „Du-", sagt er und sieht jetzt nach vorne. „Halt dich fest."

Ich nicke und klemme meine Arme noch enger um ihn, als er losfährt. Ein kleines Lächeln kann ich mir nicht unterdrücken, während ich meinen Kopf an seinen Rücken lehne. Er lässt es zu.


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