Der Pipi-Prinz von Helsinki

171 6 1
                                    


Eine halbe Ewigkeit hatte ich an mir herumgewerkelt und gespachtelt, bis ich ratlos vor meinen Klamotten stand. Ich schob jeden Bügel der Kleiderstange einzeln zur Seite und wusste nicht, was ich anziehen sollte. Ich sah auf die Uhr. In einer halben Stunde würde Jonas mich abholen und ich stand mit großen Locken, roten Lippen und dunklem Make-Up in Unterwäsche in meinem begehbaren Kleiderschrank und hatte nichts anzuziehen.
Nach und nach zog ich ein Kleid nach dem anderen hervor und betrachtete es kritisch. Ich hätte mir was Neues kaufen sollen. Ich schnaufte und schob die Bügel weiter. Rot, schwarz, türkis, dunkellila. Am Ende entschied ich mich für ein bodenlanges dunkelgrünes Kleid mit einem asymmetrischen Träger, der am Rand mit kleinen Strasssteinen besetzt war. Der obere Teil des Kleides war etwas gerafft und der Rock lief fließend über meine Knöchel aus. Schwarze Heels und eine schwarze Clutch, die genauso glitzerte wie der Träger. Ich legte die blonden Locken über die freie Schulter und entschied mich für schlichte silberne Ohrstecker. Gerade warf ich einen letzten kritischen Blick in den Spiegel, als es klingelte.
Ich öffnete die Tür und sah einen überraschten Joonas.
„Woooow." Machte er und pfiff durch die Zähne. „Ich hätte noch andere Leute einladen sollen um anzugeben."
„Dankeschön. Du siehst auch gut aus."
Er trug einen schwarzen Anzug mit Weste und passender Krawatte. Schwarze Lederschuhe und ein dunkelrotes Hemd. Passende dazu ein dunkelrotes Einstecktuch. Die Haare waren an den Seiten wieder kurzrasiert und die blonden längeren Haare am Oberkopf neigten sich ein wenig zur linken Seite.
„Kann losgehen." Sagte ich und strich ihm über die Schulter.
Wir stiegen in das Taxi mit dem Joonas gekommen war und fuhren Richtung Wasser.

Im Club angekommen fielen wir mit unseren Outfits wirklich nicht auf. Die Frauen trugen tolle Kleider und waren topgestyled, während die Herren alle elegant im Anzüg durch den Raum flanierten. Es gab eine große Bar, die mit allen Flaschen dieser Welt bestückt war und überall gab es große Sofas und alte Möbel, die sich mit der minimalistischen Dekoration bissen. Die große Fensterfront bot eine wunderschöne Aussicht über das Wasser und die beleuchtete Skyline Helsinkis.
„Schön, oder?", fragte Joonas als er neben mich an die Fensterfront trat.
„Ja. Super schön."
„Wollen wir was trinken?"
„Klar."
„Was möchtest du?"
„Gin Tonic."
„Gute Wahl. Ich hol uns was." Meinte er und ging Richtung Bar.
Der Laden war schon gut gefüllt, es lief angesagte Housemusik und die Leute unterhielten sich und lachten. Ich sah mich im Raum um, entdeckte aber niemanden, den ich schon mal gesehen hatte.
Joonas kam mit 2 Longdrinkgläsern mit Storhhalmen zurück und drückte mir eins in die Hand.
„Kippis." Meinte er und stieß gegen mein Glas.
Er deutete diskret immer wieder mit dem Kopf auf einige Personen und erklärte wer, wer war. Die unterschiedlichsten Leute waren anwesend. Viele Leute von Plattenfirmen, hauptsächlich Warner Music, die in Skandinavien Marktführer waren. Einige Produzenten und Künstler von einheimischen Bands. Einige Namen hatte ich bereits gehört, andere hörte ich zum ersten Mal. Nach einer Weile kam ein bärtiger brünetter Mann in einem dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd und blauer Fliege zu uns rüber, der Joonas mit Handschlaf begrüßte und ihn in seine Arme zog.
„Das ist Miro. Wir haben mal zusammen auf einer Tour in Deutschland gearbeitet." Stellte er seinen Freund vor.
„And this beautiful lady is?", fragte der.
„Sophia." sagte ich und schüttelte seine Hand.
„I know." Zwinkerte er. „He already told me, about his new job, but he forgot to tell me, that his boss looks like a model."
Ich lachte verlegen.
"Thank you. I like your suit."
"My suit." Er winkte ab. „You haven't seen whats underneath."
Er lachte laut und steckte uns damit an.
"Miro ist Lichttechniker. Der beste, den ich kenne."
„And you guys are drinking what?"
"Gin Tonic." Gab ich zurück.
„I go catch some new drinks for you."
Mit den Worten schlich er zur Bar und ließ uns allein.
„Er ist ein Charmeur. Fall da bloß nicht drauf rein." Grinste Joonas.
„Hatte ich nicht vor. Aber er sieht gut aus."
„Er hat auch einen guten Stich bei Frauen. Ich hab ihn mehrfach in Aktion gesehen. Unterschätz ihn besser nicht. Er ist herrlich unverschämt, aber ihr Frauen steht ja darauf."
„Hat er das von dir gelernt?" grinste ich.
„Ja." Er richtete gestellt seine Krawatte. „Vielleicht ein bisschen."
Wir lachten und sahen uns wieder im Raum um.
„Siehst du den Kerl mit den braunen Schuhen?" , fragte er, drehte sich zu mir und sah diskret über meine Schulter. „Guck nicht so auffällig hin, aber das ist.....Oh Gott. Der Spacken hat ja hier noch gefehlt." Kam es auf einmal.
„Was? Der mit den braunen Schuhen?"
„Nein. Bleib einfach stehen."
Verwirrt sah ich zu ihm hoch. Jemand ging an uns vorbei und ich sah zur Seite. Genau in die blauen Augen, die ich nur zu gut kannte. Mein Herz setzte einen Augenblick aus und meine Lunge kündigte fristlos. Samu trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und einen schmalen, schwarzen Schlips. Den Anzug kannte ich. Er hatte ihn an Silvester getragen. Die Haare waren nach hinten gegelt und er balancierte 3 Bierflaschen in der Hand.
Er sah mich kurz an, zog den Mund zu einem Strich, nickte und ging einfach an uns vorbei.
„Ich hab den am Eingang schon gesehen. Ich dachte der geht, aber anscheinend ist er auch erst angekommen." Murmelte Joonas.
Ich rang unauffällig nach Luft und sah kurz auf den Boden.
„Wie er hier rumstolziert. Sorry, ich weiß, du kennst ihn, aber den Kerl kann ich echt auf den Tod nicht ausstehen. Mit seiner Zuhälterfrisur."
„Du kennst ihn doch gar nicht." Meinte ich ruhig und versuchte mir ein Lächeln abzuringen. „Er trägt Bier durch den Raum. Ist jetzt irgendwie nicht arrogant oder sonstwas."
„Ja, ich weiß. Sorry. Ich finde ihn einfach unsympathisch."
Miro kam mit den Drinks zurück und verwickelte uns direkt in eine Unterhaltung. Er war lustig, berichtete von Erlebnissen, die die beiden auf Tour gemacht hatten und war nicht verlegen mir schöne Augen zu machen.
Ich konnte mich gar nicht wirklich auf das Gespräch konzentrieren, weil ich im Augenwinkel sah, dass Samu nur ein paar Meter weiter stand und ich das Gefühl hatte mein Kopf hätte 100 Grad und würde hier gleich, inmitten dieser feinen Gesellschaft explodieren.
Während Miro und Joonas in Erinnerungen schwelgten, sah ich vorsichtig hinter Joonas'Rücken zur Seite und entdeckte Samu, der sich mit dem Mann in den braunen Schuhen und einer brünetten Frau in einem engen roten Kleid unterhielt. Gerade wollte ich den Blick abwenden, als er zu mir rüber sah. Einen Moment sahen wir uns nur an und dann drehte er den Kopf wieder nach vorn und widmete sich seinen Gesprächspartnern. Ich sah wieder zu Miro und Joonas und strich mir übers Dekolleté.
„Es ist warm hier drin, oder? Wollen wir irgendwo rauchen gehen."
„Klar. Da drüben ist eine Raucherlounge."
Joonas entschuldigte sich bei Miro, legte galant seine Hand auf meinen Rücken und schob mich durch den Raum zur Glastür, hinter der sich der Raucherbereich befand.
„Ich finde wir trinken noch was." Meinte Joonas und klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel, um sie anzuzünden.
„Klar."
Hastig zog ich an meiner Zigarette.
„Wenn es hier nicht auflockert, fahren wir einfach noch woanders hin."
„Nein. Ich mag es hier. Die Location ist schön."
„Ja. Ich finde es auch gut. Ich dachte, falls es dir vielleicht zu steif hier ist...."
„Nein. Alles super. Das wird schon noch."

Das wurde es. Irgendwann fingen die ersten Leute an zu tanzen und wir schlürften weiter mit Miro an der Bar Gin Tonics und diverse Schnäpse.
Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich in Samus Richtung schielte und immer wieder sah er mich nur kurz an und blickte wieder in die andere Richtung. Er unterhielt sich angeregt und lachte viel und er sah dabei unverschämt gut aus. Ich hatte ihn bisher nur zweimal im Anzug gesehen. MIt dem nervösen Jungen in Jeans und Shirt im Studio hatte sein Anblick nichts gemeinsam. Er wirkte selbstsicher, schüttelte ständig irgendwelche Hände und wirkte viel größer, als er eigentlich war.
Immer wieder hatten wir kurz Blickkontakt und es kam mir einfach so fremd vor, nicht mit ihm zu reden oder bei ihm zu stehen. Vor meinem inneren Auge kam er zu mir rüber, stellte sich neben mich, legte seine Hand an meine Hüfte und küsste meine Schläfe. Wie er es sonst auch getan hatte. Jetzt mied er mich, blieb auf seiner Seite des Raumes und machte keine Anstalten Kontakt mit mir aufzunehmen. Er hatte es gesagt. Es würde nichts zwischen uns ändern. Es war vorbei. Endgültig. Der gutaussehende, große, elegante, blonde Mann da drüben war mein Ex-Freund. Das war's.

Joonas verhielt sich wieder perfekte Gentleman. Sobald mein Getränk fast leer war, reichte er mir ein neues. Er zündete meine Zigaretten an, öffnete jede Tür und ließ mich sich unterhaken. Wenn sich jemand vorbeidrängelte, zog er mich immer wieder galant an der Hüfte zur Seite und entschuldigte sich. Niemand hätte unter dem Anzug die tätowierten Arme auch nur vermutet und er schien eine gute Erziehung genossen zu haben. Vielleicht flirtete er ein wenig, aber das war okay. Es passte in die Stimmung und ich genoss die Tatsche ein wenig chauffiert zu werden.
Während Miro mich in ein Gespräch verwickelte entschuldigte sich Joonas und ging zur Toilette. Miro war eindeutig zum Flirten geboren und legte sich kräftig ins Zeug. Ich ließ mich ein wenig drauf ein. Sollte Samu doch wenigstens sehen, dass es mir gut ging und dass ich mich wohlfühlte. Das ich hierher gehörte. Das, dass hier jetzt auch meine Heimat war. Das ich nicht für ihn hierhergekommen war, sondern wegen meiner Karriere. Wegen des Studios. Wegen mir. Egal, ob wir getrennt waren oder nicht. Er sollte wissen, dass ich diese Stadt nicht hasste und das er falsch gelegen hatte, als er mir nicht zuhören wollte, als ich erklären wollte, dass ich nur aus Wut alles schlechtgeredet hatte, was er liebte.

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ich öffnete die Tür zum Herren-WC und ging durch den weißgefliesten Raum, der nach Duftstäbchen und Seife roch. Vorbei an den großen eckigen Waschbecken in den hinteren Bereich zu den Pissoirs. Niemand war hier und meine Schritte hallten durch den Raum.
Ich stellte mich an das letzte Becken an die Wand und friemelte an meiner Hose herum. Mit Jeans war das hier eindeutig leichter. Erst verhakte sich der Knopf, dann verkantete sich der Reißverschluss in meinen Boxershorts. Verdammter Anzug. Als ich endlich da angekommen, wo ich hinwollte, seufzte ich und lehnte den Kopf entspannt in den Nacken.
Auf einmal ging die Tür auf und ich hörte Schritte. Ich sah kurz zur Seite und erkannte Samu, der den Toilettenbereich betrat. Der hatte mir ja noch gefehlt. Aufgebrezelter Idiot. Als würde er hier die Party schmeißen. Schon als wir reingekommen waren, hatte er Sophia angestarrt, als hätte er noch nie eine Frau gesehen. Der Unterkiefer war fast runtergeklappt und er hatte mich gemustert, als sei ich der letzte Mensch der Welt. Dabei fand ich eigentlich, dass ich eine ganz gute Figur neben ihr machte. Das er glotzte, verstand ich ja. Sie sah großartig aus und Miro hatte bereits an der Bar offiziell Interesse bei ihr bekundet. Ich hatte ihm gleich gesagt er soll seine Finger bei sich behalten. Nicht, weil ich es drauf anlegte bei ihr landen zu können, sondern, weil ich nicht wollte das er was mit ihr anfing. Wir hatten gerade erst angefangen miteinander zu arbeiten und es lief großartig. Der Job machte mir Spaß und die Atmosphäre im Studio war mega entspannt und so sollte es auch bleiben. Ich verstand, dass Miro sich nicht wirklich zusammenreißen konnte. Ja, sie war unbestreitbar attraktiv und machte einen irre guten Job. Als ich gehört hatte, dass es ein zweites Studio geben würde und sie nun in Helsinki arbeitete, war ich fast ausgeflippt und ich wollte nichts mehr als mit ihr zu arbeiten. Die Frau hatte richtig Ahnung und ging total in ihrem Tun auf. Ich genoss das sehr und das sollte auch so bleiben. Ich wollte, dass sie einen guten Eindruck von mir hatte und bemühte mich schon den ganzen Abend darum, dass sie sich wohlfühlte und die Chance hatte Kontakte zu knüpfen. Samu hatte mich immer wieder gemustert. Anscheinend ging es ihm wie mir: Er konnte mich nicht leiden. War mir aber auch egal, solange er mich einfach in Ruhe ließ.

Er sah mich kurz an, nickte und stellte sich an das Becken direkt neben mich. Also wenn es eine ungeschriebene Regel auf der Herrentoilette gab, dann die, dass man sich nicht neben jemanden stellte, wenn alle anderen Pissoirs frei waren. Kannte der keine Privatsphäre? Es schien ihn jedenfalls nicht zu interessieren.
Ich hörte, dass er seine Hose öffnete und anscheinend nicht dieselben Probleme dabei hatte, wie ich erst. Ich sah verbissen und stur weiter an die Fliesenwand vor mir und konzentrierte mich auf mein Tun. Eine schüchterne Blase hatte der Herr anscheinend auch nicht.
„So, du hast gekriegt die job, mmh?"
Hörte ich es neben mir. Jetzt sprach er auch noch Deutsch mit mir. Mit so einem dummen Unterton, als würde er auf mich herabsehen. Spinner.
Ich starrte weiter die Wand an, wie er es auch tat.
„Kyllä." Ignorierte ich sein Deutsch. Als könnte ich kein Finnisch. Was sollte das denn? War das hier ne Show? „Guck mal was ich kann. Ich krieg meine Hose schneller auf als du, spreche Deutsch und bin ein verdammter Rockstar, der Scheißmusik macht?" Vollidiot.
„Gluckwunsch." Sagte er zum Fliesenspiegel.
„Kiitos."
„Magst du die studio?"
„Kyllä. Kaunis." Gab ich einsilbig zurück. Merkte der nicht, dass ich keinen Bock auf eine Unterhaltung mit ihm hatte? Schon gar nicht hier beim Pinkeln.
„Mmh." Machte er nur.
Im Augewinkel bemerkte ich, wie Samu anscheinend den den Fliesenspiegel aus den Augen verloren hatte und ungeniert runter in mein Pissoir schielte. Er gab sich keine große Mühe dabei diskret zu sein. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich jetzt gedacht, dass er vielleicht schwul wäre, aber so wie er Sophia am Eingang angestarrt hatte und immer wieder zu ihr rübersah, während sie sich unterhielt, konnte das nicht sein. Außer er war vielleicht neidisch auf ihr Kleid. Hatte er nicht auch irgendeine Modelfreundin? Ich war da nicht informiert.

Samu hob den Blick und ich sah ihm direkt in die Augen, um ihm zu signalisieren, dass ich sehr wohl bemerkt hatte, dass er mir auf den Schwanz schielte. Das schien ihn allerdings auch nicht zu interessieren. Er grinste nur süffisant und sah wieder auf die Wand vor sich. Als ich meine Hose zumachte und nochmal zu ihm rübersah, grinste er mittlerweile von einem Ohr zum anderen in Richtung der weißen Fliesen.
Ich spülte und verließ den Raum Richtung Waschbecken. Er tat es mir nach, folgte mir in den Waschraum und wusch sich die Hände am Waschbecken neben mir. Samu grinste mich debil durch den Spiegel an. Komischer Typ. Als wir zur gleichen Zeit nach den Papierhandtüchern griffen, die zwischen unseren Waschbecken auf einer Ablage parkten, zog er die Hand weg und ließ mir den Vortritt ein Papier zu nehmen.
„Kiitos." Nuschelte ich und wir trockneten uns synchron die Hände ab.
Er strich sich mit einer Hand die Haare zurück, knüllte das Papier zusammen und warf es aus einige Entfernung gezielt in den Papierkorb. Dann klopfte er mir mit voller Wucht auf die Schulter, grinste wieder und meinte lachend:
„No „big" deal, bro." Malte Gänsefüßchen in die Luft und verschwand prustend durch die Tür nach draußen.

Hatte der sich gerade über mich lustig gemacht? Was zum Teufel stimmte mit diesem Kerl nicht?

HeimkehrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt