'29. Kapitel

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Mit wackeligen Beinen stieg ich in die Kutsche, wobei Lyndon mir beim Einsteigen half. Noch immer fühlte ich mich schwach und war auf Hilfe angewiesen. Nun befanden wir uns an der südlichen Küste von Tempora Annis und waren weiter auf den Weg nach Norden. Ranars Angaben waren unheimlich genau, nachdem er all meine Energie genommen hatte.
Lyndon schien mit der Zeit immer unruhiger zu werden. Sonst war er immer ruhig und überaus freundlich. Doch jetzt schien er angespannt und wurde wohl immer misstrauischer und kratzbürstig. Sogar mir gegenüber zeigte er sich ein wenig grimmig.
Ranar sprach die meiste Zeit weder mit Lyndon, noch mit mir, sondern starrte nur aus den Fenster. Mir war nicht mehr nach reden zumute, da es viel zu anstrengend war.
Ein unangenehmes Schweigen herrschte in der Kutsche, während ich versuchte zu schlafen. Lyndon saß neben mir, und selbst mit geschlossenen Augen konnte ich spüren, dass er immer wieder zu mir sah. Seine Energie war aufgewühlt, was seine Nervosität noch deutlicher machte. Meine Hände hatte ich neben meinen Oberschenkeln auf die Sitzbank platziert. Meine linke Hand zuckte leicht zusammen, als ich seine warme Handfläche auf meinem Handrücken spürte. Er umschloss sie mit seinen Fingern, wobei er einen leichten Druck ausübte.
Irgendwas hielt er zurück. Das merkte ich durch das leichte Zittern seiner Hand.

"Wir müssen aussteigen. Den restlichen Weg müssen wir zu Fuß gehen", sprach Ranar plötzlich.
Es war schon wieder später Abend und wir befanden uns nun im nord westlichen Bereich von Tempora Annis. Tempora Annis war für seine idyllische und wunderschöne Landschaft bekannt, doch als ich aus dem Fenster blickte, sah ich nur noch hohes Gras und einen dunklen, grauen Himmel.

Auf Lyndon gestützt trat ich auf den trockenen Feldweg, der durch die Einöde aus Gras führte. Der Weg war zu schmal, als dass wir mit der Kutsche hätten weiterfahren können.
Ranar ging zielstrebig den Feldweg entlang, während die Kutsche umdrehte und ich mit Lyndon dem Weg folgte. Die Umgebung schien mir trostlos und erdrückend.
Es dauerte nicht lange, bevor wir in einem kleinen, verlassenen Dorf ankamen, dessen altmodischen Hütten zur Hälfte abgebrannt und zur Hälfte vermodert waren. Nur ein paar der wenigen Häuser, die sich zwischen den kleinen Straßen reihten, waren noch einigermaßen intakt. Es herrschte eine Totenstille in diesem Ort, als Ranar vor uns stehen blieb.
"Es...ist irgendwo hier", murmelte er und schaute nach vorn, zum anderen Ende des Dorfes. Kurz starrte er weiter in diese Richtung, als etwas seine, sowie Lyndons Aufmerksamkeit zu ergreifen schien.
Die Windböhe, die durch das Dorf wehte, wirbelte den Dreck auf dem Boden auf und ließ meine Haare leicht wehen.

"Sie sind hier", hauchte Lyndon. Seine Stimme wurde vom Wind verschluckt, sodass ich erschrack, als Lyndon die Arme um mich schlang.
Plötzliche Fußstapfen waren zu hören. Mehrere Leute waren auf dem Weg zu uns.
"Ranar Saiken. Unsere Wege trennen sich hier"
Lyndons Stimme war ernst, dunkel und finster, als er die Hand zum Himmel reckte und augenblicklich die grauen Wolken im Himmel sich im Dorf versammelten.
Ich sah nichts meht vor all dem Nebel, sondern bekam nur mit, wie ich hochgehoben und schnell fortgetragen wurde.
Lärm war in der Ferne zu hören, als etwas gewaltsam aufgestoßen wurde und es wieder leise wurde.
Lyndons lauter und unregelmäßiger Atem hing mir im Nacken, während er mich vorsichtig auf dem Boden absetzte.
Wir befanden uns in einem verkommenen Schlafzimmer, das vermutlich in einem der Häuser lag. Mit dem Rücken lehnte ich an einem kleinen Schrank und Lyndon kniete vor mir. Wieder herrschte eine bedrückende Stille, in der er nur auf den Boden starrte.
"Was soll das?", fragte ich ihn, um eine solide Stimme bemüht.

Du bist nah. Worauf wartest du noch? Gleich ist es geschafft!

Lyndon ergriff meine Hände und blickte volller Wehmut zu mir auf. Seine Augen waren feucht, sein Griff zittrig. Vorsichtig hob er meine Hände an und drückte seine Lippen auf sie.
"Hör nicht auf ihn", flüsterte er kaum vernehmlich.
Meine Augen weiteten sich bei seiner Aussage.
"Egal was du tust, geh nicht hin!"
Seine Blick flehte mich an, als die Tränen begannen, seine Wangen hinabzurollen.
"Du kannst...sie hören?", stottert ich immernoch verwirrt.
Er nickte schmerzhaft schmunzelnd und griff nach seinem Kragen, um ihn runterzuziehen.
"Als du in Ignis-Patriae warst, haben die Anhänger der Redemptio dir eine Spritze verpasst. Nicht wahr?", sprach er lächelnd, während die Tränen auf den Boden tropften.
"Die anderen, die sie bekommen hatten, wurden zu gefühlslosen Maschinen, die jedem Befehl gehorcht haben"
Sein Hals und sein Nacken waren vollkommen freigelegt.
"Es tut mir leid..."
Seine Worte waren nur noch Schluchzer, als ich die Stelle betrachtete, wo seine Haut um einen kleinen, schwarzen Punkt in seiner Haut dunkel angelaufen war. Die Adern um den Einstich waren ebenfalls schwarz angelaufen und deutlich hervorgehoben. Ähnlich wie bei mir, als ich die Spritze verpasst bekommen hatte.
"Er hat gesagt, dass ich dich holen soll. Dass du bald bereit wärst..."
Sein Griff um meine Hände wurden wieder stärker.
"Aber du hast dich nicht ergeben... Du hast deinen Verstand und deine Gefühle komplett voneinander getrennt, nur deswegen bist psyschich noch intakt und musst nicht auf ihn hören"
"Ich verstehe nicht...", entglitt es mir.
"Es ist jetzt egal! Aber mache auf keinen Fall das, was er von dir will! Er will deine Macht, gib sie ihm nicht!"
Seine Stimme war laut, sein Ausdruck verzweifelt.
"Es ist meine Schuld, dass du solche Probleme hattest mit ihm! Ich habe es nur noch gesteigert und wollte dich ihm ausliefern, aber...", wieder musste er sich auf die Unterlippe beißen, um sein Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen.
"Aber als ich dich kennenlernte, habe ich gesehen, dass es einen anderen Weg gibt. Dass es falsch ist, was ich tue. Jemand wie du sollte nicht schamlosen Monstern wie ihm ausgesetzt sein, die nur an deiner Macht interessiert sind", winselte er mit zugekniffenen Augen.
Als er sie wieder öffnete, starrten seine kristallblauen Augen mich liebevoll an.
"Ich habe mich umentschieden, aber es war schon längst zu spät. Ich bin stolz, dass ich sagen kann, dass ich es so lange ausgehalten habe, ohne meinen Verstand zu verlieren... Aber es dauert nicht lang. Es ist schon in mir drin, die ganze Zeit. Seine Stimme verfolgt mich seit Monaten und sie gewinnt die Oberhand über mich. Bitte, lauf weg. Verlasse diesen Ort, sorge dafür, dass du ihn vollkommen aus deinem Kopf schaffst!"
Meine Verwirrung und seine Verzweiflung trieben mir selbst die Tränen in die Augen.
"Wer ist die Person, von dem du redest? Was will er von mir? Warum zwingt er dich das zu tun?", entgegnete ich.
"Die Person, die für alle Anschläge und all den Terrorismus verantwortlich ist. Er will deine Macht, er will dich zu einem seiner Maschinen machen. Ich bin nur ein Mittel für diesen Zweck und ich bin kurz davor mich zu ergeben. Ich kann nicht mehr Widerstand leisten..."
Er beugte sich zu mir vor und lehnte sein Gesicht an meine Brust.
"Es ist meine Schuld, dass du hier bist. Ich hätte dich nicht gehen lassen dürfen...", murrte er in meine Jacke und verkrallte seine Hände in dessen Stoff.
"Ich wollte hierher", erwiderte ich.
Ich war erschüttert. Selbst Lyndon hatte mich betrogen, selbst wenn er sich umentschieden hatte.
"Du bist viel zu wertvoll. Geh zurück, vergiss, was du hier gesehen hast. Mit dir soll auf keinen Fall dasselbe passieren wie mir", schniefte er stark zitternd.
"Ist Zen auch dort?"
Er nickte nur leicht.
Vorsichtig legte ich die Hand auf die schwarze Stelle auf seinem Nacken. Sie pulsierte stark.
"Wenn du bleibst, passiert dir dasselbe, du musst gehen...", sprach er weiter und vergrub das Gesicht tiefer in meiner Jacke.
"Dann komm mit", flüsterte ich.
"Nach allem, was ich dir angetan habe, kann ich nicht. Selbst wenn, würde ich bald nicht mehr ich selbst sein. Du musst alleine gehen, dir darf es nicht passieren...bitte nicht..."
Ich spürte die warme Nässe seiner Tränen in dem Stoff meiner Kleidung, als ich zu ihm hinabsah.
All die Verzweiflung in seiner Stimme erinnerte mich nur zu gut an meine eigene. Ich wollte nicht, dass er mehr leidete.
"Doch, du kannst mitkommen. Wir finden etwas, dass dir hilft", widersprach ich ihm und ergriff sein Gesicht, damit er mich ansah.
Doch nur das schmerzefüllte, wunderschöne Lächeln, zeichnete seine Lippen.
"Es macht keinen Sinn mehr. Ich habe nur noch eine Bitte an dich"
Seine Mundwinkel zitterten und verzerrten sich zu dem schmerzenden Gesichtsausdruck, der mich erschütterte.
"Bitte, bring mich um"
Seine Worte machten mich sprachlos.
"Was...?"
"Ich will von deiner Hand sterben. Sonst werde ich nur das Monster, für das ich vorgesehen wurde. Bitte, tu es!"
Er hatte meine Schultern ergriffen und rüttelte sie flehend. Kopfschüttelnd versuchte ich ihn von mir wegzudrücken, doch er ließ nicht ab.
"Bitte! Ich habe nur verdient zu sterben! Ich habe dir viel zu sehr wehgetan!", seine Bitten verkrampften mein Herz.
"Nein! Das kann ich nicht machen!", rief ich, doch es half nichts.
"Wenn du mir noch helfen willst, wenn du noch einen Funken Liebe für mich übrig hast, dann bitte bring mich um!"
Den Blickkontakt, den wir teilten, ließ meine Tränen fließen.
"Es ist das Schönste, was mir jetzt noch passieren kann...Bitte", flüsterte er.

Mit zitternder Hand griff ich unter meinen Ärmel, wo sich einer meiner Dolche befand.
"Es tut mir so leid...", hauchte er erneut, als er sich aufrecht vor mich kniete. 
Der Dolch drohte durch das starke Schaudern meiner Hand, mir zu entgleiten, als ich es auf seine Brust richtete.
Die Tränen, sammelten sich wieder in seinen Augenwinkeln an, als er mich mit einer Mischung aus Reue und Furcht anblickte.
Es war das Letzte, das er sich wünschte. Also hatte ich doch keine andere Wahl.

Ich kniff die Augen zusammen, bevor ich die Klinge des Dolches mit einem Stoß bis zum Heft inmitten seiner Brust versenkte.
Er stöhnte auf, bevor nur noch ein Röcheln seiner Kehle entwich.
Die Tränen, die seinen Wangen nun hinabliefen, waren keine Tränen der Trauer. Sie waren pure Freude.
Ich drehte den Dolch in der Wunde, sodass er nach vorn kippte. Er versuchte seine Arme noch auszubreiten, um mich ein letztes Mal in eine Umarmung zu schließen, die ich umso fester erwiderte.
"Da...nke..."
Er wand mir seinen Blick zu.
"Ich...lie..."
Er hauchte nur noch die Töne, bevor sein Körper in meinen Armen erschlaffte.
Das Blut rann in Strömen sein schneeweißes Jackett hinab und tränkte es in dem tiefen Rot, mit dem auch ich besudelt war.
Ich spürte, wie die letzte Energie seinen Körper verließ, als auch sein Körper meinen Griff entglitt. Lyndon fiel rücklings zu Boden, sein Gesicht hatte immernoch den dankenden Ausdruck angenommen, doch sein Blick war nun leer.
Der Dolch ragte aus seiner Brust und die Blutlache begann sich unter ihm zu formen.
Er war tot.
Vorsichtig zog ich den Dolch aus seiner Brust und wischte die Klinge an meiner Jacke ab, bevor ich sie zurücksteckte. Die Hand streckte ich zu seinem Gesicht auf und legte sie über seine Augen, um sie zu schließen. Er war immernoch wunderschön. Es sah nicht aus, als wäre er tot. Insgeheim hoffte ich, dass er nur eingeschlafen war, doch auch dies war eine meiner närrischen Wünsche, die sich nie verwirklichen würden.
Nun überkam es mich.
Ich konnte nicht anders, als den Mund aufzureißen, um nach Luft zu ringen, als ich mich über seine Leiche beugte. Der Körper, war nur noch eine leere Hülle. Ich hatte ihn umgebracht.

Schreie waren das einzige, was ich von mir geben konnte. Schmerzerfüllte, erschütternde Schreie. Gemischt mit brennenden Tränen, die nicht aufhören wollten zu fließen.
Was machte all das noch für einen Sinn?
Ich wollte das beschützen, was mir wichtig war, doch ich brachte es um?
Die Wut auf mich selbst und die Trauer fraßen sich immer tiefer in meinen Kopf. Beide Hände hatte ich auf die Ohren gepresst, die Augen fest zugekniffen.
Ich wollte diese grausame Welt nicht mehr sehen.
Ich wollte diese grausame Welt nicht mehr hören.
Doch dort lag sie, vor mir, ein Produkt meiner Schuld.

War es das, was du wolltest?


Schleichend bewegte ich mich über den Boden, genau in die Richtung, von dem der Lärm zuvor noch gekommen war. Aufrecht stellte ich mich hin und blickte in die Nacht über mir.
"Ich bin hier! Jetzt komm und hol mich! Du willst mich doch, oder etwa nicht?!", schrie ich zum Himmel hinauf und breitete die Arme aus.
Das Blut klebte an mir wie eine Klette und ich hatte jetzt nur noch ein Ziel.
Ich würde das tun, von dem Lyndon nicht gewollt hatte, das ich tat.
Ich würde mich ihm stellen.

Urplötzlich standen sie vor mir. Schwarze Gestalten umzingelten mich und ich wusste, dass sie mich dorthin führen würden, wo ich hinwollte.

New Life of MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt