48. Kapitel

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"Ambeeeeeer!!!", schrie Sui und stürzte sich auf mich. Am Boden liegend versuchte ich noch zu atmen. Wir befanden uns vor dem östlichen Friedhof, wo Sui sich immer runtrieb.
Zuvor hatte Zen kurz vorbeigeschaut um nach mir zu sehen. Ray war nicht sehr erfreut, sagte aber nichts. Als ich dann Wort bekommen hatte, dass ich nach Sui schauen sollte, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht.

"Und? Wie gefällt es dir in Core?", fragte ich Sui, nachdem sie mich losgelassen hatte.
"Super! Die Leute starren mich zwar noch an, aber seitdem ich am Friedhof arbeite habe ich tolle Gesellschaft!", rief sie fröhlich.
"Soll ich dir meine neuen Freunde vorstellen?", fragte sie grinsend.
"Gerne doch"

Wir gingen auf den großen Friedhof, wo die vielen und imposanten Grabsteine emporragten. Ein paar Leute irrten umher oder pflegten die Gräber.
Sui nahm mich an der Hand und führte mich zu einem großen Grabstein, der aus weißem Mampf bestand.
"Da...da...das ist Mero", sagte Sui lächelnd und stellte sich vor da Grab.
"Du meinst da unten?", fragte ich ein wenig verwirrt.
"Nein, nicht doch! Das ist nur ihr Körper. Schau, sie steht doch vor uns", entgegnete mir Sui verwundert. Dann zog sie mich zu dem nächsten Grab und stellte mich den toten Leuten vor, die unter der Erde lagen.

"Was machst du hier eigentlich den ganzen Tag?", fragte ich Sui.
"Ich arbeite hier!", antwortete sie stolz, "Ich kümmere mich um Gräber, helfe bei den Bestattungen und leiste allen Gesellschaft!", rief sie fröhlich und tanzte umher.
"Wem Gesellschaft?", fragte ich.
"Na, allen! Es sind doch soooo viele Leute hier und alle so nett!", sagte sie ein wenig empört. Ein verstörender Verdacht kreuzte meinen Gedanken.
"Sui? Kannst du Seelen sehen?", fragte ich.
"Natürlich. Sonst wäre ich nicht hier, immerhin sollte ich selbst schon bei ihnen sein...", murmelte sie.
"Du solltest tot sein?"
Sie nickte. "Ich lag schon unter der Erde, aber ich wollte wieder raus. Also habe ich mich wieder ganz nach oben gekämpft und...", sie brach in der Stelle ab und kicherte verstöhrend.
"Jedenfalls bin ich so gut wie tot. Wie ich diesen Körper verlassen kann, weiß ich aber noch nicht. Aber das ist mit jetzt egal! Immerhin habe ich hier neue Freunde und ein schönes Leben! Sterben kann ich später, wen du auch tot bist", sagte sie lächelnd.
"Was bist du nur, Sui?", fragte ich ebenfalls lächelnd.
"Ich war mal eine Hexe", antwortete sie strahlend.
Mein Atem stockte.
"Nachdem ich umgebracht wurde hätte ich zu einem Viscard werden sollen, aber das war nicht der Fall. Jetzt benutze ich meine Energie kaum. Viel lieber spiele ich mit meiner Axt und befürdere andere in das Jenseits!", lachte sie. Ein paar Momente brauchte ich um das alles zu verarbeiten. Eine Hexe, gestorben, wiederbelebt, nun 316 Jahre alt, bringt Menschen zum Spaß um?
"Und du bringst gerne Menschen um?", fragte ich leise. Sie kicherte. "Nur wenn sie es verdient haben", antwortete sie und lächelte mich an. Dann ergriff sie meine Hände und starrte mir ernst in die Augen.
"Aber dich würde ich nicht umbringen! Du bist besonders Amber...", murmelte sie.
"Besonders?"
"Na klar! Du hast mich hierhergebracht! Du hattest keine Angst und hast mich akzeptiert, obwohl ich...so bin wie ich bin"
Ich lächelte sie an und kicherte. Sui war ziemlich verstörend, aber im Grunde ein liebes, aber einsames Mädchen, das sich nichts mehr wünschte, als unter die Leute zu kommen.
"Aber du musst mir unbedingt den Viscard vorstellen, der deinen Kopf benebelt!", rief sie dann plötzlich und strahlte mich an.
"Habibiko?", murmelte ich.
Sie nickte erfreut.
"Das Vieh wollte mich umbringen!", rief ich wütend.
"Nein, nein. Sie wollte dir nur helfen. Deine Energie spielt immerhin verrückt", widersprach Sui mir gelassen. Ich erschauderte, als ich an sie dachte. Immerhin wusste ich nun, dass Habibiko ein Mädchen war.
"Wenn Vollmond kommt können wir uns ja treffen. Da...da...dann besucht sie dich bestimmt nicht mehr in deinem Kopf, sondern hier", erklärte Sui mir lächelnd.
"Ist das nicht...gefährlich?", fragte ich skeptisch.
Sui schüttelte den Kopf.
"Keine Angst, ich beschütze dich! Immerhin kann ich ja nicht sterben!", lachte sie und zeigte auf die Naht, die ihr quer übers Gesicht ging.
"Und woher weißt du das jetzt alles?", fragte ich ein wenig überfordert.
"Wenn man so lange lebt wie ich, da...da...dann würdest du da...da...das auch wissen!", lachte sie. Ein wenig verunsichert lächelte ich sie an und kicherte. Ihr kleiner Sprachfehler machte aie eigentlich ziemlich putzig.
"Dann geh ich mal", sagte ich zu ihr und wand mich zum gehen.
"Bis da...da...dann!", rief sie mir zu und winkte mir nach, als ich vom Friedhof ging.
Erstmal brauchte ich eine Erfrischung, um die ganzen unrealistischen Informationen zu verarbeiten. Aber was war hier noch unrealistisch?

Taris strich mir durch die Haare, als ich kurz vorm Einschlafen war.
"Schlaf gut, Meisterin", flüsterte er und drückte mir die Lippen an die Stirn.
Meine Augen wurden immer schwerer und ich schlief ein.

Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Das nasskalte Wetter fuhr mir durch die Glieder, als ich auf der Straß vor meiner alten Schule stand. Die Kinder strömten über den Pausenhof, um ihre Busse und den Zug zu kriegen, oder einfach nur nach Hause zu laufen. Lizzy lief alleine. Sie ging abgeschnitten von den anderen nach Hause. Wie es ihr wohl ging?
Ich rannte zu ihr hin und versuchte ihre Schulter zu berühren, doch das brachte nichts. Meine Hand prallte an ihr ab und keine Berührung fand statt.
Ihre dunkelblonden, langen Haare trug sie wie immer offen und ihre grünen Augen hatten einen gleichgültigen Ausdruck. Die schlanke und zerbrechliche Gestalt ihrer selbst schlenderte den Weg entlang und schien nichts außer sich selbst zu beachten.
"Lizzy!", rief ich.
Keine Reaktion. War ja klar. Obwohl sie mich nicht hören konnte, hatte ich soviel, dass ich ihr erzählen wollte. Über mein neues Leben, meine neue Welt und meine neuen Freunde.
Also redete ich. Ich sprach eigentlich mit mir selbst, aber das vertaute Gefühl Lizzy dabeizuhaben, machte mich glücklich.
Den ganzen Weg entlang redete ich pausenlos und als sie an ihrem Haus angekommen war, blieb sie stehen und schaute mir direkt in die Augen. Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln.
"Lizzy, was stehst du rum?", rief ihre Mutter, die aus der Haustür hervorlugte.
"Nichts, ich komme", sagte sie und ging nach drinnen.

Ich trottete die Straßen entlang und kam letztendlich auch nach Hause. Mal wieder stand ich vor dem großen Haus, in dem ich mal gewohnt hatte.
Mein Verlangen hineinzugehen wurde mit jeder Sekunde stärker. Doch das ging nicht mehr.
Wenn ich einen Weg zurück fand, würde ich dann alles aufgeben, was ich mir in der anderen Welt aufgebaut hatte? Gehörte ich noch hier hin?
Ja, und ich gehörte auch in die andere Welt. Ich würde mich nie für eine der beiden entscheiden können. Wenn es einen Weg hierher gab, würde es auch wieder einen zurück geben.

Entschloss hielt ich zwei Finger an den Kopf und konzentrierte meine Energie. Mit einem Lächeln im Gesicht durchbohrte ich meinen Kopf mit meiner Energie.

Langsam öffnete ich die Augen und starrte in die Dunkelheit in meinem Zimmer. Taris lag wie gewohnt auf meinem Bauch und schlief friedlich. Vorsichtig nahm ich ihn in den Arm und drückte ihn an mich.
Taris öffnete die Augen und starrte mich an. Ich stubste seine Schnauze leicht an und lächelte. Verdutzt schaute er mich an, als ich ihn auf dem Boden absetzte. Taris leuchtete kurz auf und wurde immer größer.
"Was ist den Meisterin?", fragte er verschlafen und legte sich wieder neben mich hin.
"Ich war zu Hause", murmelte ich.
"Willst du wirklich wieder zurück?", murmlete er und schaute mich traurig an.
"Ja, für eine Weile...", sagte ich und rieb mir die Augen.
"Aber du nimmst mich doch mit, oder?!", fragte er schmollend. Ich wuschelte ihm durch die Haare und lächelte.
"Natürlich! Du bist doch mein wichtiges Haustier...", murmelte ich und kicherte.

Am nächsten Tag rannte ich die Treppen zu meinem Meister hoch. Völlig außer Atem klopfte ich an.
"Du bist zu früh", sprach mein Meister kühl.
Ich ergriff seinen Ärmel und sah entschlossen zu ihm hoch.
"Ich will einen Brief nach Hause schicken!"

"Du weißt schon, dass das nahezu unmöglich ist, oder?", fragte mein Meister skeptisch.
"Meine Oma hat das auch hinbekommen, dann kann ich das auch!", widersprach ich ihm.
"Hast du wenigstens schon was geschrieben?", fragte er dann.
"Na klar!", sagte ich und hielt ihm meinen Briefumschlag vor die Nase.
Er überlegte kurz und ergriff meine Hände. Den Brief legte er vor sich und mir und platzierte meine Hände darauf. Seine Hände legte er auf meine und Schloss die Augen.
"Ich werde dich in diesem Vorgang unterstützen. Aber nur du wirst es verschicken können", sprach er.
Ich nickte und schloss ebenfalls die Augen.
"Nun, an wen willst du den Brief verschicken?"
"An meine Freundin, Lizzy"
"Gut. Jetzt konzentriere dich nur auf sie. Deine ganzen Gefühle und deine Energie müssen eins sein. Nur den Wille allein kann deinen Brief zu ihr führen", erklärte und verstärkte seinen Griff auf meinen Händen.
Ich nickte und konzentrierte mich auf die ganzen Momente, die mir noch mit ihr in Erinnerung blieben. Jedes Mal als wir lachten, stritten, weinten. In meinem Kopf bildete sich ein Abgrund aus tausenden von Bildern von uns. Eine brennende Hitze durchflutete meinen Körper, als meine Energie wie ein Sturm in mir wütete.

Der Brief löste sich in tausende kleine Lichtfunken auf und verschwand in meinen Händen. Entgeistert starrte ich ihnen nach und lächelte. Endlich hatte ich es geschafft. Und es würde bestimmt nicht mehr allzu lange dauern, bis ich wieder zurück konnte.

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