74. Distractions

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Chapter 74

In bester Stimmung sang ich lauthals zu den Liedern mit, dessen Lautstärke bestimmt die gesamte Etage, auf der ich mich befand, zum Beben brachte. Zu Beginn merkte ich nicht, was für einen Krach ich doch machte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich auf mich selber zu konzentrieren. Seit dem Gespräch mit Lynn hatte ich ein, zwei Nächte damit verbracht, mir ernstere Gedanken über mein Leben nach dem Abflug zu machen. Sie hatte mit allem vollkommen recht. Aus diesem Grund hatte ich heute Morgen das Krankenhaus mit positiven Gedanken verlassen. Keine Sorge, ich war nicht abgehauen, sondern wurde entlassen. Dem Doktor zufolge, den ich vor dem Skypen mit Lynn gezwungenermaßen selber aufsuchen musste, ginge es mir prächtig. Irgendetwas hatte er mir erklärt, doch so gut, dass ich medizinische Fachbegriffe verstehen konnte, waren meine Koreanischkünste nun auch wieder nicht. Da ich aber mehr oder weniger ganz gescheit Koreanisch reden konnte, gingen sie davon aus, dass ich sie verstehen würde. Er meinte aber, dass das, was mir verabreicht wurde, keine größeren, zukünftigen Auswirkungen auf mich habe. Wie es den Anschein hatte, wollten mir die BTS Fans im Endeffekt dann doch nur Angst einjagen. War ihnen echt gut gelungen.

Sich selber zu etwas motivieren und die Denkweise um 360 Grad zu drehen, war natürlich nicht einfach. Von heute auf morgen schien das auch viel zu leicht gedacht. Ich musste mich praktisch selber dazu zwingen, mich zusammenzureißen, nicht in alte Muster zu verfallen und alles zu geben. Die Ängste wurden in den Hintergrund gedrängt. Die möglichen Risiken und Konsequenzen wurden nicht bedacht. Wahre Kämpfer dachten über solche Dinge nicht nach, sie machten nur. Somit hatte ich es geschafft, mir wenigstens ein bisschen Mut einzureden. Dass ich dadurch gute Laune bekommen würde, war nicht wirklich Teil des Plans gewesen. Ein positiver Seiteneffekt war es dann doch schon. Außerdem wusste ich ja nicht, wie Jeongguk auf meinen neuen Plan reagieren würde. Im Prinzip war es ja auch mein alter Plan gewesen, später wieder zurückzukommen, aber nach dem ganzen Hin- und Her konnte man es als neuen Plan zählen, okay? Er hatte vorher ja schon gut klargemacht, dass er nicht möchte, dass ich ihn verlasse, deswegen wusste ich nicht, wie er erneut darauf reagieren würde. Hoffentlich hatte er mich noch nicht ganz abgeschrieben und stimmte dem Plan zu. Wenn das nicht der Fall wäre, müsste ich mir etwas Neues überlegen. So schwer es mir auch fiel, die Sache, dass ich zurück nach Deutschland flog, um dort alles zu klären, stand hundertprozentig fest.

Den Rückflug zu akzeptieren, war befreiender als gedacht. Die Sorgen schienen nicht mehr, mich derartig zu belasten. Auch das Packen meines Koffers, was ich momentan mit sehr viel Geschrei meisterte, wurde nicht so emotional, wie ich es mir bis vor kurzem vorgestellt hatte. Bei der Menge musste ich aber heute oder morgen noch zur Post und meine Klamotten zu Lynn schicken. In meinen Koffer passte das alles gar nicht mehr rein. Trotzdem packte ich erst den Koffer, weil ich noch keine Kartons für den Rest hatte. "Head in the clouds, got no weight on my shoulders. I should be wiser and realize that I've got...", legte ich eine kurze Gesangspause ein. Wie schlimm das doch für mögliche Zuhörer klingen musste. Auf diese Art war es aber einfacher für mich, denn ich wurde dank der Musik von meinen Gedanken abgelenkt. Nur weil ich auf einmal stark sein wollte, hieß es nicht, dass ich automatisch keine Angst mehr hätte. Dem war nicht so, ich hatte tierische Angst.

Meine Schulter komisch kreisend, spitzte ich die Lippen und richtete nichts ahnend meinen Blick auf das Bett neben mir, auf dem vor einigen Wochen Lynn noch geschlafen hatte. Dort stach mir eine schwarze Snapback ins Auge, auf der sich die Aufschrift "Dope" erstreckte. Beim Anblick dieser Snapback riss ich die Augen auf und machte die Musik etwas leiser. Zögernd erhob ich mich vom Bett. Oh meine Güte, trug ich die nicht bei meinem ersten Date mit Jeongguk? Dass ich sie noch besaß, war ja mal ein Wunder. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit trug ich keine Snapbacks mehr. Wann hatten wir unser erstes Date nochmal? War das nicht im Februar oder im März? Es waren vielleicht drei bis vier Monate vergangen und trotzdem fühlte es sich an, als ob es schon so lange her wäre. Schmunzelnd nahm ich diese in die Hand, betrachtete sie voller Nostalgie und ging mit meinem Finger über den Schriftzug.

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