Too much...

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Es fühlte sich an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich zitterte am ganzen Leib, und doch stand ich da, starrte ihn perplex an und wusste nicht so recht, ob ich gerade träumte oder ich mich in der Realität befand.
"Mein.. mein WAS?" fragte ich fast spöttisch.
Er sah mich mit glasigen Augen an und ließ langsam meine Hand los, die ich viel zu fest drückte.
Mein Blick fixierte ihn, mein Körper spielte verrückt und doch realisierte mein Hirn nicht. Ich fühlte mich wie in Trance. Als wäre ich im Halbschlaf, und würde mich an einen Traum erinnern. Jegliche Wärme wich aus meinen Händen und mein Magen drehte sich im Kreis.
"Zemer?"
Ich reagierte nicht. Ich konnte nicht aufhören ihn anzustarren. Es war fast so, als konnte ich nicht wegsehen. Als wäre ich erstarrt.
"Liri!" Erst als Kujtim an mir rüttelte, brach die Schockstarre.
"Komm rein, lass uns sie hinsetzten. Sie ist ganz blass."
Alles vor meinen Augen verlangsamte sich. Jede Bewegung, jeder Schritt, jedes Wort kam mir vor wie in Slowmotion. Ich setzte mich auf die Couch und starrte meinen "Bruder" an. Er setzte sich neben mich und erst jetzt fiel mir die erschreckende Ähnlichkeit zwischen uns auf. Die grünen Augen, seine langen Wimpern und die langen Augenbrauen. Überhaupt, sein ganzer Ausdruck. Als wäre er mir aus dem Gesicht geschnitten.
"Hier, trink." Kujtim reichte mir ein Glas Wasser, welches ich mit zittrigen Händen ergriff. Ich verschlang das Wasser, als wäre ich eine Woche lang durch die Sahara gerannt. Mein Hals fühlte sich an, wie eine eingestaubte Röhre.
"Ich bin übrigens Kujtim, ihr Freund." Er reichte Liridon die Hand, die er freundlich ergriff.
"Freut mich dich kennenzulernen."
"Und du bist also ihre andere Hälfte?" Das war der Moment, in dem ich meine Stimme wieder fand.
"Was soll das bitte heißen, du bist mein Zwillingsbruder? Wie kann das möglich sein, das geht doch überhaupt nicht?"
"Ich weiß wie du dich fühlst Liridona, als ich es heraus bekommen habe, konnte ich es auch lange nicht glauben und akzeptieren. Ich hatte sogar Angst, dich kennenzulernen."
"Hallo Stopp! Du kannst hier nicht einfach aufkreuzen und mein Leben auf den Kopf stellen!" Tränen flossen mir die Wangen hinunter, meine Stimme brach.
"Ich werde dir alles erklären, jedes Detail. Nur bitte beruhig dich erst einmal."
"Beruhigen? Weißt du eigentlich was das für mich bedeutet?"
Ich schlug die Hände vors Gesicht und ließ meinen Tränen freien Lauf. Mein ganzes Leben lang, habe ich gedacht ich wäre allein. Mein Leben lang habe ich mir einen Bruder oder eine Schwester gewünscht, jemanden der mit mir lacht und weint. Auf den icu immer zählen kann, jemand mit dem ich micu Streite, und trotzdem weiß, dass er mich liebt. Ich habe mir jemanden gewünscht der meinen Schmerz mit mir teilt und an meiner Seite bleibt, um für mich da zu sein. Und heute erfahre ich, dass dieser "jemand" mein ganzes Leben lang existiert hat, ohne dass ich etwas von ihm wusste? Mein Kopf drönte, in mir war alles ein einziges Chaos. Eine Achterbahn der Gefühle. Ich wusste nicht ob ich wütend sein soll, ob ich glücklich sein soll, ob ich geschockt oder abweisend sein soll. Was passierte nur mit meinem Leben? Ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Eine Hürde nach der anderen die ich meistern sollte.
"Ist schon gut shpirt." Ich spürte wie Kujtim micu in den Arm nahm und mir einen Kuss auf den Kopf gab. Ich ließ mich in seine Arme fallen und weinte micu aus. Nach einer Weile, beruhigte ich mich. Ich wischte mir über mein Gesicht und holte tief Luft.
Als ich die Augen aufmachte, wollte ich immer noch nicht glauben was gerade passiert war. Er saß da, gegenüber von mir. Mit feuchten Augen sah er mich an. Ich sah in das männliche Spiegelbild von mir und hatte das Gefühl, die Kontrolle über meinen Verstand zu verlieren.
"Es tut mir leid.." sagte er kleinlaut. Ich konnte die Angst in seiner Stimme hören. Die Zweifel.
"Seit wann weißt du es?" fragte ich mit zittriger Stimme.
Er zögerte, sah zum Fenster hinaus.
Ich gab ihm die Zeit, sich zu sammeln.
"Seit 2 Jahren."
Diese Worte trafen micu wie eine Ohrfeige. Seit 2 Jahren, und er kommt erst jetzt?
"Seit 2 Jahren? Und wieso kommst du erst jetzt?"
"Ich wusste nicht wie du reagieren würdest Liri... Ich wusste nicht wie ich reagieren würde. Mein Leben wurde auf den Kopf gestellt und außerdem hatte ich keine Ahnung, ob du überhaupt bereit für so einen Schock warst, nach der Sache.." er verstummte und sah beschämt auf seine Hände.
"Nach welcher Sache?" Mein Herz geschleunigte seinen Puls.
Er schwieg.
"Nach welcher Sache?" fragte icu ungeduldig.
"Nach der Sache mit dem Missbrauch..." sagte er fast flüsternd.
"Ich hab es in den Nachrichten gesehen." fügte er hinzu. Ich spürte, wie mein Magen sich drehte. Röte schoss mir ins Gesicht, es war mir unglaublich peinlich.
Ich sah auf meine Finger, mit denen ich nervös spielte. Ich wusste nicht was ich machen sollte, ich fühlte mich hin und her gerissen.
"Sag doch bitte was.." verlangte er.
"Lass ihr ein bisschen Zeit." sagte Kujtim.
"Nein! Nein ich will keine Zeit! Ich will eine Erklärung. Ich will eine Antwort auf mein beschissenes Schicksal!" meine Stimme klang lauter als ich wollte.
"Wie hast du es herausgefunden?" fragte ich in einem ruhigeren Ton.
Er sah mich flehend an. Flehend nach was? Verständnis?
"Damals, als das alles heraus gekommen ist. Dass du 5 Jahre lang das alles mit machen musstest. Es kam überall in den Medien, überall wurde darüber berichtet. Fotos von dir wurden gezeigt und ich war geschockt, wie ähnlich wir uns sehen. Und dann war da dieser eine Abend. Mein Vater saß da, mit seinem besten Freund und redete. Ich kam gerade von der Arbeit nach Hause, aber sie bemerkten mich nicht. Sie redeten über dich, über dass was passiert war. Und dann fing mein Vater an zu weinen. Er sagte, dass es ihn so leid tue, dass er ein so schlechtes Gewissen hatte. Sein Freund fragte weswegen und er antwortete, das ist Liridona! Das ist mein kleines Mädchen, was ich damals weggeben musste! Ich kam in die Tür und beide waren geschockt. Ich stellte meinen Vater zur Rede, ich bin vollkommen ausgerastet. Warum er mir das all die Jahre verschwiegen hatte und was ihm eigentlich einfiel. Ein paar Tage später, als die Situation sich beruhigt hatte, setzte er sich mit mir hin und erklärte mir dann, was passiert war.
"Liridon, ich habe damals den größten Fehler meines Lebens gemacht. In meiner Jugendzeit, habe ich ein Mädchen geliebt. Ich liebte sie über alles, sie war mir das wichtigste auf der Welt. Ich hätte mein Leben für sie aufgegeben. Doch das Schicksal wollte nicht, das wir zusammenkommen. Denn ihre Eltern erlaubten ihr nicht, mich zu heiraten. Einfach weil wir uns geliebt haben, das war damals so. Ihre Eltern Verlobten sie, mirt irgendeinem anderen Kerl, der mehr Geld und ansehen hatte als ich. Aber wir führten unsere Beziehung im geheimen fort. Auch ich musste mich irgendwann verloben, weil meine Eltern mir Druck machten. Ich hatte das Alter schon lange überschritten. Trotzdem blieb die Liebe zu einander bestehen. Irgendwann heirateten wir beide, ich zog hierher, nur um in ihrer Nähe zu sein. Ich schäme mich, dir dass alles zu erzählen, aber ich bin es dir schuldig. Wir hatten eine Affäre miteinander, und sie wurde schwanger. Ich wollte alles Beichten, ich wollte erzählen was passiert war, sie mitnehmen und dann verschwinden, aber sie war strikt dagegen. Aber so einfach ließ ich mich nicht unter kriegen, ich sagte ihr, dass ich wenigstens das Kind haben wollte. Es gehörte auch mir, es war zur Hälfte mein Fleisch und Blut. Aber sie rastete komplett aus, sagte dass das nicht ginge und wie sie das ihren Mann erklären solle. Als dann heraus kam, dass sie Zwillinge hatte, stellte ich sie vor die Wahl. Entweder ich kriege eines der Kinder, oder ich würde sie auffliegen lassen. Also schmiedeten wir einen Plan, als sie kurz vor der Entbindung war, flog sie in den Kosovo. Dort bestachen wir Ärzte und Schwestern mit Geld, nicht zu erzählen dass es Zwillinge sind. Sie wollte unbedingt das Mädchen, mir war es egal, ich wollte nur mein Kind und einen Teil von ihr bei mir behalten. So kam es dann, dass ich es mitnahm. Ich erzählte deiner Mutter alles, ich gestand ihr was ich getan hatte und da sie keine Kinder bekommen konnte, akzeptierte sie dich, unter einer Bedingung. Ich sollte nie wieder Kontakt zu deiner Mutter aufnehmen." Das hat er mir erzählt." sagte er. Mir kam die Galle hoch. Ich rannte ins Bad und übergab mich, das war zu viel. Das war alles zu viel. Aber die Geschichte hatte einen Haken, mein Vater sagte mir damals, sie habe ihn mit 4 Männern betrogen.
"Schatz, geht's wieder?" Kujtim kniete neben mir und strich mit sanft über den Rücken, während ich den Inhalt meines Magens in der Kloschüssel entleerte.
"Nein. Es geht gar nichts. Ich weiß nicht was mit meinem Leben passiert." Ein weiterer Heulkrampf überkam mich.
"Ich glaube es ist genug für heute. Du musst das alles erst einmal verarbeiten."
Ich nickte nur, und spülte mit den Mund aus. Es war alles zu viel für mich. Zu viel Information. Zu viel Fragen, zu wenig Zeit. Ich brauchte Ruhe. Ich musste das alles erst mal sacken lassen. Ich sah in den Spiegel, und ein kreidebleiches Gesicht stand mir gegenüber. Meine Augen waren blutunterlaufen und geschwollen.
"Du hast einen Zwillingsbruder." sagte ich zu meinen Spiegelbild. Und dann wurde alles schwarz. Vor meinem inneren Auge verschwand das Licht, und ich fiel in ein dunkles Loch. In ein Loch von Albträumen...

How he saved me...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt