Kapitel 74

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Ich weiß ehrlich nicht, wie lange ich da noch gesessen habe, aber irgendwie muss ich es geschafft haben, in mein Bett zu kommen. Denn als ich am nächsten Morgen vom lauten, unangenehmen Piepen meines Weckers geweckt werde, bin ich genau dort.

Ich gebe ein wütendes Knurren von mir und werfe das nervtötende Ding dann einfach vom Nachttisch. Der Wecker verstummt und für einen kurzen Moment geht es mir wieder gut.

Aber dann kommt alles zurück. Die ganze Erinnerung von gestern Abend. Und sofort werde ich wieder kraftlos und lasse ich zurück ins Kissen sinken.

Ich will nicht aufstehen. Ich will einfach hier liegen bleiben und nie wieder eine Menschenseele sehen.

Trotzdem siegt am Ende mein Wille, Thess zu zeigen, dass sie mich nicht komplett an meine Grenzen gebracht hat. Gut, das hat sie, aber ich würde lieber sterben als ihr das ins Gesicht zu sagen.

Also stehe ich auf. Ich nehme mir meine Klamotten, dusche, mache meine Haare und schminke mich. Und das alles mit diesem tauben Gefühl des Schmerzes in meiner Brust, an das ich mich anscheinend schon gewöhnt habe.

Ich her die Treppen hinunter und in den Speisesaal. Ich sehe ihn. Und alles ist wieder da.

Am liebsten würde ich mich umdrehen und wieder gehen. Oder noch besser: Einen weiteren Heulkrampf kriegen und direkt hier in der Tür zusammenbrechen. Aber ich tue nichts von beidem. Ich setze mich einfach, so weit abseits, wie es geht, und würdige ihn keines Blickes mehr.

Ich würde ja sagen, so ist es am Einfachsten. Aber egal wie es ist, es ist so oder so das schwerste der Welt.

**

Ich bin richtig stolz auf mich, dass ich es schaffe, mit ihm in einem Auto zu fahren und verfluche mich während der Fahrt ungefähr hundert mal dafür, dass ich der Meinung war, er müsste noch unbedingt weiter bei uns wohnen.

Als wir endlich aussteigen, murmelt er mir ein leises "Tschüss, Nia", zu, und es löst in mir wieder diesen lähmenden Schmerz aus, der an meinem Herzen anfängt und sich langsam in jede einzelne Zelle meines Körpers ausbreitet.

Und ich bin froh, dass ich es bis ins Schulgebäude schaffe, ohne mich nach ihm umzudrehen.

**

Im Unterricht ist Ari wie immer in letzter Zeit nicht da, dafür ist Thess für mich umso präsenter. Wenigstens schaffe ich es, ihr die ersten vier Unterrichtsstunden aus dem Weg zu gehen. Und dann beginnt der Philosophie- Unterricht.

Der Lehrer redet über irgendetwas und ich tue so, als würde ich mir irgendetwas notieren.

Auf einmal höre ich Thess' Stimme neben mir. "Oh mein Gott, Nia! Weinst du etwa?", fragt sie und ich spüre in ihrer Stimme etwas hämisches, schadenfreudiges, spöttisches mitklingen.

Ich sehe sie überrascht an und merke, dass das Papier unter mir tatsächlich ganz nass geworden ist. Schnell wische ich mit über die Augen und schaue Weg. Verdammt. "Quatsch, natürlich nicht", murmele ich, aber ich Klinge etwa so glaubhaft wie eine Werbung für Diätpillen. Was Thess natürlich auch bemerkt.

"Ach, du Scheiße, du weinst!", meint sie, und ich hasse sie für das helle Lachen, das darauf folgt. Ich würde so gern ihren Worten etwas entgegensetzen. Ihr etwas ins Gesicht Schleudern, das sie wirklich trifft. Aber ich weiß, wenn ich jetzt anfange, zu reden, heule ich richtig los.

"Ach komm schon, Süße", meint Thess, die sich mittlerweile wieder von ihrem Lachkrampf erholt hat und legt mir eine Hand auf die Schulter. "Du dachtest doch nicht ehrlich, dass du bei Jon eine Chance hättest?"

Ja, denke ich. Ja, aber du musstest ja wie immer alles kaputtmachen.

Sie zuckt mit den Schultern und kichert leise in sich hinein. "Das ist wirklich süß."

Von irgendwo weit her höre ich die Schulglocke und Schüler, die ihre Sachen zusammenpacken, und dann Thess' Stimme, ganz nah an meinem Ohr.

"Egal, wie du es drehst und wendest. Egal, wie sehr du dich anstrengst, wenn es um uns beide geht, werde ich immer die Nummer Eins sein", raunt sie mir ins Ohr. Das ist zu viel. Wütend drehe ich mich zu ihr um. "Denkst du ehrlich, Jon hätte tatsächlich Interesse an dir? Hat er dich auf der Party geküsst? Hat er wochenlang bei dir gewohnt?", fauche ich sie an, aber es scheint sie nicht zu interessieren.

"Na ja, das nicht. Aber mit wem von uns beiden ist er ins Bett gestiegen? Mit dem Mädchen, das ihn schon nach einem Abend um den Finger gewickelt hat, oder mit der verklemmten Jungfrau, die schon seit zehn Jahren zu viel Schiss hat, ihn anzusprechen?", will sie wissen, und diese Worte tun weh.

Mit einem verächtlichen Schnauben und den Worten: "Du bist erbärmlich", steht sie auf und verlässt den Raum.

Und ich bin ganz allein.

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