Sechsundzwanzig

51 10 21
                                    

Jetzt

Rio

Zum Glück kann ich jeden Tag trainieren gehen und meinen aufgestauten Frust raus lassen. Pete ist sehr zufrieden mit mir und er glaubt, dass ich schon bald für meinen zweiten Kampf bereit bin. Außerdem laufe ich auch fast jeden Tag um den See, der in der Mitte von Greengarden angelegt wurde. Dabei komme ich gezwungenermaßen jedes Mal an Diegos Appartementhaus vorbei. Schliesslich liegt es direkt am See, so dass ich einen riesen Umweg machen müsste, um es zu meiden. Das wäre ja Blödsinn. Auch kann ich nichts dafür, dass direkt vor seinem Haus eine praktische Bank steht, an der ich bequem meine Dehnungsübungen machen kann. Mein Blick bleibt dann ganz automatisch an der Fassade kleben und sucht die Fenster im zehnten Stock ab. Einmal hatte ich das Gefühl, dass mich jemand von dort beobachtet, doch wahrscheinlich habe ich mich getäuscht. Also mache ich mich wieder auf den Weg zurück zur Lagerhalle. Nach ein paar Schritten jedoch, lässt mich ein Geräusch herumfahren. Ich dachte, ich hätte meinen Namen gehört, kann jedoch niemanden entdecken. Suchend schaue ich mich um und bemerke plötzlich etwas Rotes in einem der Büsche. Vorsichtig gehe ich etwas näher heran und erkenne eine zusammengesunkene Gestalt dort liegen. Als ich mich zu ihr beuge und die Frau auf die Seite drehe, erkenne ich Elaine, oder das, was von ihr übrig ist. Ihr Gesicht ist eine einzige Wunde. Aufgeplatzte Augenbrauen und Lippen, die Augen zugeschwollen. Ihre schönen, langen Haare wurden ihr abrasiert und die Kleidung hängt nur noch in Fetzen an ihr. Ich will gar nicht wissen, was sie sonst noch für Verletzungen am Körper hat...

Völlig geschockt kann ich mich zuerst gar nicht bewegen. Doch dann gebe ich mir einen Ruck und nehme sie behutsam auf meine Arme und rede leise auf sie ein. Sie ist noch knapp bei Bewusstsein und murmelt immer wieder meinen Namen. So schnell ich kann, laufe ich zur Straße und lege sie vorsichtig in das Taxi, das ich zum Stehen gebracht habe. Nach einem letzten Blick nach oben zu Diegos Fenstern setzte ich mich zu ihr und gebe dem Fahrer die Anweisung, uns in die Klinik zu fahren. Nachdenklich lehne ich mich im Sitz etwas zurück und streiche Elaine sanft über die kurzen Haare. Stand da tatsächlich jemand am Fenster in Diegos Wohnung? Oder war das nur eine Spiegelung? Ich dachte wirklich, ich hätte etwas gesehen... aber es war wahrscheinlich nur eine Täuschung.

An der Klinik angekommen, trage ich Elaine direkt in die Notaufnahme und übergebe sie den geschickten Händen eines Arztes. Nachdem ich mich überzeugt habe, dass gut für sie gesorgt wird, schleiche ich mich leise wieder hinaus. Neugierige Fragen von Krankenschwestern oder gar der Polizei kann ich nun wirklich nicht gebrauchen.

Zwei Tage später schleiche ich mich zu ihr ins Zimmer, eine einzelne weiße Rose in der Hand. Sie ist wach und schaut mir traurig entgegen. Ich gebe ihr einen leichten Kuss auf die Wange und setze mich an ihr Bett.

„Wie geht es dir, Elaine?" Frage ich sie, etwas erschrocken von ihrem traurigen Blick.

„Es geht mir einigermaßen gut," sie nuschelt leicht, da die Lippe genäht werden musste. „Danke dir noch vielmals, dass du mich in die Klinik gebracht hast, aber jetzt möchte ich, dass du gehst und mich in Zukunft in Ruhe lässt."

Nur langsam begreife ich, was sie da gerade gesagt hat. „Elaine, ich bin dein Freund. Ich werde mich um dich kümmern, bis du wieder auf den Beinen bist. Und außerdem musst du mir sagen, wer dir das angetan hat. Dieser Scheißkerl hat dich fast zu Tode geprügelt." Ich bemerke, wie sich leichte Panik in ihren Blick schleicht und sie anfängt, den Kopf zu schütteln.

„Rio, ich habe genug von meinem alten Leben und werde von hier fortgehen. Ich will keinen Kontakt mehr zu irgendjemandem hier und schon gar nicht zu dir. Dieser Teil meines Lebens ist abgeschlossen. Rio, ich werde dir auf ewig dankbar sein, dass du mich gerettet hast, doch nun musst du mich loslassen. Sobald ich hier raus komme, werde ich meine Sachen packen und von hier verschwinden. Glaub mir, das ist das Beste!"

Fassungslos starre ich sie an und verstehe nicht, was hier gerade passiert. Schon wieder verschwindet einfach so jemand aus meinem Leben.

„Geh jetzt, Rio. Bitte geh und vergiss mich!"

Langsam stehe ich auf und gehe mit hängenden Schultern zur Tür. „Ich werde dich nie vergessen, Elaine. Ich wünsche dir alle Gute und ich hoffe, du findest, was du suchst." Und mit einem letzten Blick auf die kleine Gestalt im Bett wende ich mich ab und bin draußen auf der Straße. Vor der Klinik bleibe ich noch einen Moment stehen und versuche mich zu fassen. Sie war nicht nur eine Bekannte, sondern auch eine gute Freundin. Gedankenverloren streiche ich über meinen Nacken, der wieder angefangen hat, zu kribbeln und verschwinde aus ihrem Leben. Ganz so, wie sie es sich gewünscht hat...

Diego

Unruhig tigert er in seiner Wohnung hin und her. Als sein Handy endlich klingelt, muss Diego zuerst einmal tief durchatmen, bevor er abnimmt. Gespannt hört er zu und langsam stiehlt sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Je mehr er hört, desto mehr ist er überzeugt, das Richtige getan zu haben, als er diese kleine Nutte Elaine aus dem Weg hat räumen lassen. Je weniger Freunde Rio hat, desto mehr wird er sich ihm anschließen. So ist auf jeden Fall der Plan.


Rio - from the beginning Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt