Sechsundsiebzig

35 9 5
                                    

Jetzt

Rio

Jetzt lebe ich schon eine ganze Woche in dem kleinen Hinterzimmer des „Blue Lights" und allmählich fängt es an, mir zu gefallen. Ben beobachtet mich mit Argusaugen, doch vorerst benehme ich mich vorbildlich. Ich muss zuerst einmal seine Routine herausfinden, danach werde ich besser Bescheid wissen, wann ich mir einen Schluck oder zwei Whiskey gönnen kann, ohne dass es auffällt.

Die Jungs, die als Stammgäste in die Bar kommen, sind, wie Finn schon sagte, mehrheitlich Polizisten. Sie sind eher etwas misstrauisch mir gegenüber, doch das stört mich nicht groß. Dann lassen sie mich wenigstens in Ruhe. Zu meinen Aufgaben gehört es, die Tische abzuräumen, die Gläser zu spülen und die Vorräte aufzufüllen. Es ist ein echter Knochenjob, das hätte ich nicht gedacht. Die schweren Fässer und Kisten mit Flaschen zu schleppen verlangt mir schon einiges ab, obschon ich gut trainiert bin.

An diesem Abend ist ziemlich viel los und ich schlängele mich mit meinem Tablett unermüdlich durch die Tische und räume das gebrauchte Geschirr ab, als mich plötzlich jemand von hinten anrempelt. Ich drehe mich sofort um und will den Typen auch schon anpflaumen, als ich sehe, wer denn da gekommen ist: Clay Hunter. Oder besser gesagt, Steve Jacobs, wie er ja mit richtigem Namen heißt.

„Kannst du einen Moment Pause machen?" Fragt er mich über das Getöse der Musik und den lauten Stimmen hinweg. Ich nicke nur und winke ihm, mir zu folgen. Ich stelle das volle Tablett auf den Tresen und mache Ben ein Zeichen, dass ich kurz mit Steve im Lager verschwinden will. Er schaut von Steve zu mir und winkt uns dann durch. Im Lager ist es zwar ungemütlich, jedoch wenigstens relativ ruhig. Wir setzen uns auf zwei Fässer und betrachten uns zuerst eine Zeitlang. Keiner scheint als Erster das Wort ergreifen zu wollen, bis sich Steve endlich einen Ruck gibt.

„Nun, Rio. Zuerst möchte ich mich bei dir entschuldigen. Ich habe dich benutzt, um an Diego Salasar heranzukommen. Es gab leider keinen anderen Weg."

Ich bleibe noch einen Moment still, bevor ich etwas sagen kann.

„Das ist mir inzwischen auch klar geworden. Finn hat mir von deinem Undercovereinsatz berichtet und ich habe meine Aussage auch schon gemacht. Anscheinend hast du bei der Staatsanwaltschaft ein gutes Wort für mich eingelegt, sonst wäre ich womöglich noch im Gefängnis gelandet. Also glaube ich, dass wir quitt sind."

„Ich bin froh, dass du das so siehst. Und wegen Damien..."

„Das war auch nicht deine Schuld. Ich habe noch gesehen, wie du ihn aufhalten wolltest. Ich habe ihn noch nie gemocht, dazu ist zuviel zwischen uns vorgefallen, als wir noch Kinder waren. So ein Ende habe ich ihm jedoch nie gewünscht... aber wahrscheinlich ist es das Beste so."

„Dann ist zwischen uns alles gut?" Fragt er mich.

„Alles gut!" Erwidere ich und wir geben uns die Hand. Ich bin froh, dass das geklärt ist und gehe etwas nachdenklich zurück an meine Arbeit.

Früher

Rio

Es vergingen fünf Tage bis alles bereit war für Max Beerdigung. Rio verbrachte zwei Tage davon mehrheitlich in seinem Zimmer, ruhiggestellt durch Medikamente. Nur Maria duldete er in seiner Nähe und sie verließ sein Zimmer nur, wenn es sein musste. Sie war auch die Einzige, die ihn überreden konnte, wenigstens kleine Happen zu essen. Auch Emilie und Finn schauten regelmäßig vorbei, Rio wollte sie jedoch nicht sehen. Nach zwei Tagen in medikamentösem Dämmerzustand weigerte er sich dann, noch mehr Pillen zu schlucken. Auch, wenn der Schmerz dadurch wieder stärker wurde und kaum zum Aushalten war, war es immer noch besser als dieser watteartige Zustand, in den ihn die Medikamente versetzt hatten. Vier Tage nach Max Unfall, einen Tag vor der Beerdigung, reifte in Rio ein weitreichender Entschluss. Er würde die Beerdigung nicht abwarten! Max war fort und eine solche Feier würde Rio nicht überleben. Das würde den ganzen Schmerz wieder aufs Neue entfachen. Also was sollte er noch hier, wo ihn doch alles an Max erinnerte?

Er packte nur das Nötigste zusammen. Seine Gitarre und der kleine Dolch, den er Max noch abgenommen hatte, waren sein wertvollster Besitz. Ansonsten kamen nur noch ein paar Kleider zum Wechseln in die Tasche. Maria versuchte ihn noch, davon abzuhalten, doch sein Entschluss stand fest. Er würde die Farm noch heute verlassen und zwar ohne, dass jemand davon erfuhr. Er würde sich wo anders ein neues Leben aufbauen... auch wenn er sich momentan ein Leben ohne Max noch gar nicht vorstellen konnte. Wie hatte das nur passieren können, fragte er sich wohl schon zum hundertsten Mal. Es war immer noch unfassbar, was da geschehen war. An jeder Ecke der Farm erwartete er, dass Max plötzlich auftauchen würde, und als er es dann nicht tat, war der Schmerz wieder von Neuem so tief und brennend, dass Rio das Gefühl hatte, selber zu sterben.

Manchmal wünschte er sich den Tod... nur damit es endlich vorbei wäre. Doch er wusste, Max würde wollen, dass er weiterlebte. Also schleppte er sich von Stunde zu Stunde, alleine, gefangen in seiner Verzweiflung.

Der Abschied von Maria war schwer. Die Kleine klammerte sich an ihn und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Er musste ihr versprechen, sich zu melden, sobald es ihm möglich war.

Dann war er fort. Auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.

Rio - from the beginning Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt