Achtundsiebzig

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Jetzt

Rio

In stillschweigendem Einverständnis haben Ben und ich nie wieder über die Nacht mit dem Whiskey geredet. Seitdem habe ich keinen Alkohol mehr angefasst. Die nächsten paar Wochen verlaufen ruhig und ich gewöhne mich immer mehr an den Tagesablauf und komischerweise auch an Ben. Ich bin zufrieden. Zum ersten Mal, seit ich von der Farm abgehauen bin, fühle ich mich sicher und auch irgendwie... glücklich?

Sogar die Musik in mir ist wieder gekommen. In meiner Zeit bei Diego ist sie einfach verstummt und ich hatte kein Bedürfnis mehr zu singen oder auf meiner Gitarre zu spielen. Doch jetzt kann ich nicht verhindern, dass ich automatisch die Musik, die in der Bar läuft, leise mit summe. Wenn ich nur wüsste, was aus meiner alten Gitarre geworden ist. Ich habe sie bei Diego zurücklassen müssen und ich habe keine Ahnung, was damit passiert ist. Wahrscheinlich hat Diego sie fortgeschmissen oder verkauft.

Ben und ich haben es uns angewöhnt, am Mittag zusammenzusitzen und den Tagesablauf zu besprechen. Da Ben ein miserabler Koch ist und ich genug von schlecht zubereiteten Sandwiches habe, habe ich angefangen, für uns zu kochen. Ben würde nie etwas sagen, aber ich glaube, er genießt die einfachen, aber schmackhaften Speisen, die ich zubereite. Dabei war es ganz natürlich, dass ich angefangen habe, ihm Bruchstücke von meinem Leben zu erzählen. Ben ist ein guter Zuhörer, der immer im richtigen Moment die richtigen Fragen stellt, jedoch auch einfach mal still zuhören kann. Auch er hat angefangen, sich langsam etwas zu öffnen und erzählt mir spannende Geschichten aus seiner Zeit als Polizist.

Eines Tages kommt auch die Sprache auf die Musik. Natürlich ist ihm nicht entgangen, dass ich hin und wieder mit der Jukebox mitsinge und ich erzähle ihm von meiner Gitarre und dass ich es vermisse, zu spielen.

Drei Tage später komme ich in mein Zimmer und was liegt da auf meinem Bett? Mein alter Gitarrenkoffer. Ich stürze sofort darauf zu und öffne ihn. Und da liegt sie: Meine Gitarre. Vorsichtig nehme ich sie hinaus und zupfe leicht an den Saiten. Sofort verziehe ich das Gesicht, sie ist sowas von verstimmt. Doch das ist egal! Ich habe meine Gitarre wieder! Das ist die Gitarre, die mir damals Emilie geschenkt hatte. Sie bedeutet mir eine Menge und jetzt ist sie wieder da!

Wer wohl dafür verantwortlich ist? Ich kann es mir denken und mache mich auf die Suche nach Ben. Ich finde ihn im Lager und ohne etwas zu sagen, umarme ich ihn ganz fest, die Gitarre immer noch in der Hand. Völlig überrascht wird er zunächst ganz steif, doch dann spüre ich plötzlich seine langen, dünnen Arme um mich, die mich leicht an sich drücken. Sanft löse ich mich nach einer Weile wieder von ihm und sehe ihm in die Augen. „Danke," sage ich nur und wende mich wieder zum Gehen. Nicht, dass es plötzlich noch peinlich wird.

Die Wochen vergehen und langsam schließe ich zaghafte Freundschaften mit den Polizisten, die regelmässig auf ein Feierabendbier hereinschneien. Ich werde mit Namen begrüßt, wenn sie hereinkommen und der eine oder andere Scherz geht auf meine Kosten, was mir immer mehr das Gefühl gibt, dazuzugehören.

Ich habe auch wieder angefangen zu laufen. Es tut gut, sich so richtig zu verausgaben und den Kopf zu lüften. Eines Abends komme ich zurück von meiner Runde und will gerade in den Hinterhof einbiegen, durch den ich in mein Zimmer komme, als ich plötzlich meinen Namen höre. Erschrocken drehe ich mich um und starre in die Dunkelheit. Ich sehe nur einen Schatten, der sich langsam auf mich zubewegt. Sofort versteife ich mich und gehe auf Abwehr, bis die Gestalt ins Licht tritt und ich Diego erkennen kann. Wie hat er mich gefunden, ist mein erster Gedanke.

„Hallo Rio. Wie geht es dir?" Fragt er mich, als hätten wir uns erst Gestern gesehen.

„Jetzt gut,"sage ich gefährlich leise. Ich merke, wie heiße Wut in mir hochkocht. „Als du mich verletzt in dem Auto zurückgelassen hast, ging es mir nicht so gut." Spucke ich ihm vor die Füße. Unwillkürlich tritt er einen Schritt zurück.

„Ach Rio, es tut mir leid. Das war eine Kurzschlussreaktion. Ich war voll in Panik und bin einfach abgehauen." Er macht wieder einen Schritt auf mich zu und streckt sogar die Hand aus, als würde er mich berühren wollen. Sofort sehe ich ihn scharf an und schon senkt er wieder seinen Arm. Von ihm berührt zu werden, ist das Letzte, was ich im Moment möchte.

„Was willst du, Diego?" Will ich jetzt wissen.

„Rio, weshalb bist du nur so abweisend? Wir hatten so eine schöne Zeit. Ich vermisse dich!"

Ich kann es nicht fassen. Lässt mich dieser Scheißkerl halbtot in einem Autowrack liegen und denkt dann, er könne nachher wieder da anknüpfen, wo wir aufgehört haben.

„Ich will, dass du verschwindest, Diego. Ich habe hier ein neues Leben angefangen und will dich nicht mehr sehen."

„Das nennst du Leben?" Kommt es spöttisch von ihm. „Du räumst schmutzige Gläser weg in einer abgefuckten Bar und wohnst in einem Hinterzimmer. Das ist doch kein Leben, Rio. Erinnere dich doch, wie schön wir zwei es hatten. In der wunderschönen, großen Wohnung. Mit all den Annehmlichkeiten. Ich kaufe dir auch wieder einen Porsche. Genau so einen, wie du hattest." Jetzt kommt er wieder einen Schritt näher und nimmt mein Gesicht in seine Hände. Ich versteife mich sofort und würde ihn am Liebsten fortstoßen. Doch irgendwie hat er mich auch neugierig gemacht. Wie weit würde er gehen, um mich zurückzubekommen? Denkt er wirklich, dass er mich mit diesen Dingen kaufen kann?

Rio - from the beginning Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt