Vierundsiebzig

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Jetzt

Rio

Leise vor sich hin lachend folgt Finn dem Lärm und gleich darauf stehen wir in einem großen Lagerraum, der bis obenhin angefüllt ist mit Kisten, Flaschen, kaputten Stühlen und sonstigem undefinierbarem Zeugs.

Mitten drin steht ein Mann, der sich stöhnend den Kopf hält. Ich schätze ihn auf etwas über sechzig. Er hat graue, militärisch kurz geschnittene Haare, seine Augen kann ich in dem diffusen Licht nicht so recht erkennen. Das Gesicht ist kantig und wird durch eine enorm große Adlernase dominiert, auf deren Spitze eine kleine Brille mit einfachem Drahtgestell sitzt. Als er sich jetzt aufrichtet, sehe ich, dass er nur wenig kleiner ist als ich, jedoch nur aus Haut und Knochen besteht. Sich immer noch den Kopf reibend, hat er uns endlich entdeckt. Ein freudiges Strahlen huscht über sein Gesicht, als er Finn erblickt und er kommt mit ausgestreckter Hand auf uns zu.

„Finn! Schön dich zu sehen." Sie geben einander die Hand und umarmen sich dann fest. „Du warst schon lange nicht mehr hier."

„Tut mir leid alter Freund, dass ich dich ein wenig vernachlässigt habe, aber du weißt ja.. die Zeit rennt."

„Ja und je älter du wirst, desto schneller vergeht sie, sage ich dir."Jetzt fällt sein Blick auf mich und er mustert mich eingehend.

„Das ist er also..." sagt er nur. Unter seinem stechenden Blick werde ich unruhig. Und was genau hat ihm Finn über mich erzählt?

„Ja," erwidert Finn. „Das ist Rio. Rio, das ist Ben Summer." Stellt er uns vor. Er macht keine Anstalten, mir die Hand zu reichen, also nicke ich auch nur kurz. „Rio ist wie ein kleiner Bruder für mich und braucht vorübergehend Arbeit und eine Bleibe." Erstaunt schaue ich zu Finn. Kleiner Bruder? Mir wird ganz warm ums Herz. Das gefällt mir, dass er das so sieht. Doch mir bleibt nicht wirklich Zeit, um darüber nachzudenken, denn schon rauscht der Typ an uns vorbei und winkt uns zu, ihm zu folgen. Wir gehen wieder nach vorne in die Bar, wo er uns allen ein Wasser einschenkt.

„Ein Whiskey wäre mir lieber," murmle ich leise, doch anscheinend hat er noch hervorragende Ohren, denn er betrachtet mich geringschätzig.

„Wie alt bist du, Junge?"

„Ich bin achtzehn," erwidere ich etwas gereizt und schaue ihm starr in die Augen. Ich werde nicht gerne als „Junge" betitelt.

„Siehst du Finn, das ist genau das, was ich gemeint habe, weshalb das hier nicht funktionieren wird." Er betrachtet mich noch einmal. „Diese heutige Jugend ist einfach zu eingebildet, zu selbstverliebt und hat das Gefühl, dass ihnen die ganze Welt zu Füssen liegen müsste. Wie konnte er überhaupt mit achtzehn schon auf den Geschmack von Whiskey kommen?"

„Ach komm schon Ben," mischt sich Finn da ein. „Gib ihm eine Chance, er wird sich Mühe geben. Nicht wahr, Rio?!" Finns blaue Augen mustern mich scharf. Ich will zuerst etwas ziemlich freches erwidern, von wegen Mühe geben und so, doch dann fällt mir die Alternative ein. Nämlich wieder zurück zu müssen ins Stadthaus von Emilie und Finn. Dann lieber hier bleiben bei diesem komischen Kauz. Der würde ohnehin nicht merken, ob und wann ich da bin und ich wette, der hat auch seine Alkoholvorräte nicht im Griff. Also wird sicher nicht auffallen, wenn zwischendurch mal was fehlen würde. Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf. „Natürlich werde ich mir jede Menge Mühe geben. Ihr könnt euch auf mich verlassen." Ben betrachtet mich aus seinen wasserblauen Augen misstrauisch. Ich merke sofort, dass es wohl doch nicht so einfach sein wird, ihm etwas vorzumachen, wie ich anfangs dachte und mein Lächeln verblasst allmählich.

„Na gut," sagt Finn, „dann ist es beschlossene Sache. Rio wird am Freitag pünktlich zu seinem neuen Dienstanfang hier erscheinen. Ihr werdet sicher sehr gut miteinander klar kommen, da bin ich mir sicher," fügt er mit einem Lächeln hinzu und verabschiedet sich mit einem Handschlag von Ben. Ben und ich geben uns dieses Mal auch die Hand und ich bin erstaunt, wie viel Kraft in seiner Hand liegt. Er quetscht mir regelrecht die Finger und bevor ich mich befreien kann, kommt er ganz nahe, so dass ich fast von seiner Adlernase aufgespießt werde.

„Verarsch mich nicht, Kleiner! Oder du wirst es bereuen, das schwöre ich dir!" Und noch einmal drückt er so richtig zu, bevor er endlich meine Hand loslässt. Ich erwidere nichts dazu, was sollte ich auch? Drehe mich um und folge Finn hinaus. Unbewusst reibe ich meine schmerzende Hand beim raus gehen.

Rio - from the beginning Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt