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In der zweiten Hälfte der Aufführung überließ ich meinem Körper die Führung. Ich war in einer Art Trance und ich wollte ihr nicht entkommen.

Ich vermutete, dass ich, sobald ich aus diesem Traum aufwachen würde, einen Zusammenbruch erlitt.
Doch, obwohl ich verzweifelt versuchte keine Gefühle an mich heran zu lassen, waren die Tränen im letzten Tanz echt.

Der Applaus war umso größer.
Doch er rauschte an mir vorbei. Er kam mir künstlich vor, als würden die Menschen nur aus Höflichkeit klatschen.
Urplötzlich fühlte ich mich fehl am Platz und ich hasste dieses Gefühl.

Abby hatte erreicht, was sie wollte. Mir war der Spaß am Tanzen vergangen. Ich fühlte mich unwohl und verraten.
Hinter der Bühne war Herr Marshall der Erste, der mich erreichte. Ich ignorierte seine Glückwünsche und ging geradewegs in die Umkleide. Dort bedankte ich mich schmallippig für die weiteren Gratulationen und zog mich so schnell wie möglich um.

Ich versuchte so wenig Menschen wie machbar zu begegnen und achtete besonders darauf, nicht auf Frau Scheper oder Herrn Marshall zu stoßen. Ich hatte keine Lust auf ihre Lügen.

Mein Maximum, was Unwahrheiten anging, war diesen Monat definitiv schon erreicht.
Es war unprofessionell einfach abzuhauen. Eigentlich schuldete ich den Trainern noch einen Dank, doch sie würden auch ohne mein vorgetäuschtes Lächeln auskommen können. Wahrscheinlich waren sie eh gerade damit beschäftigt, an einem neuen Stück zu arbeiten, bei welchem Marleen wieder glänzen konnte.

Mich kotze mein ganzes Leben einfach nur noch an. Ich fühlte mich alleine, gedemütigt aber gleichzeitig auch wild entschlossen meine Wut irgendwo auszulassen.

Ich durchquerte die pompöse Eingangshalle des Theaters. Nur noch wenige Menschen tummelten sich herum. Vermutlich waren es größtenteils stolze Eltern, die auf ihre Kinder warteten.

Ich erblickte Julian, welcher so zügig auf mich zulief, als ob er Angst hätte, ich könnte mich in jedem Augenblick umdrehen und wegrennen.
Zugegeben: diese Alternative hörte sich gar nicht mal so schlecht an.

Julian schloss mich in seine Arme und verhinderte damit meinen -noch nicht ausgereiften- Fluchtversuch.
Ich war überrascht von dieser vertrauen Geste, erwiderte sie aber.

„Du warst der Wahnsinn.", flüsterte er mir ins Ohr. Die Begeisterung war seiner Stimme deutlich anzuhören.
Entgegen meiner negativen emotionalen Lage zuckten meine Mundwinkel leicht nach oben.

„Danke", flüsterte ich zurück als hätte ich Angst, dass uns jemand belauschen könnte.
Julian ließ mich los und sofort fühlte ich mich wieder verlassen.

„Ich musste doch tatsächlich fast weinen.", gestand er und gab mir einen Knuff an die Schulter.

„Ziel erreicht.", lächelte ich schwach.

Danach schwiegen wir. Wir sahen uns in die Augen und wahrscheinlich fragten wir uns beide, wie wir uns so voneinander hatten entfernen können.

„Julian...", wisperte ich.
Doch ich brach ab. Was wollte ich ihm sagen? Dass mein Leben eine einzige Katastrophe war? Dass ich mich verlassen fühlte? Dass ich ihn vermisste?

Ich fühlte mich so vertraut mit ihm und dennoch wusste ich, dass wir uns distanziert hatten. Er hatte sich für Anny entschieden.

„Hör zu, Rose. Ich wollte nicht, dass das alles so passiert.", er gab mir ein trauriges Lächeln.

„Hey ihr!", Anny kam angesprungen und hakte sich bei Julian unter, „das war Wahnsinn, Rose! Aber Julian und ich müssen jetzt gehen.
Deine Mutter hat uns zu eurer Feier eingeladen und da will ich mich noch schick machen."

Es war die Idee meiner Mutter gewesen, zu meinen Ehren eine Party zu veranstalten. Sie hatte sämtliche Verwandte und Freunde eingeladen. Anny und Julian hatten ihr wohl auch nicht entkommen können.

Ich betrachtete Anny genauer. Ihr rosafarbenes, enganliegendes Kleid schmeichelte ihrer Figur. Ihre Haare waren zu einem kunstvollen Knoten zusammengebunden und ihre Ohrringe funkelten wie Discokugeln.
Kurz: sie sah phänomenal aus.
Was wollte sie also noch an sich ändern?

Julian fuhr sich durch seine Haare. Ich liebte dieses Blond. Nicht zu aufdringlich aber auch nicht zu blass.
Und dieses Gesicht. Die kleinen Grübchen, das ebene Kinn, selbst der kleine Huckel auf seiner Nase war irgendwie süß und seine Augen erst! Sie waren sooo...

Halt!

The Guy who was my TeacherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt