60

1.1K 51 0
                                    

Nach dieser Ansage entstand ein solches Chaos, dass Frau Scheper sich gezwungen sah, uns eine fünfminütige Pause zu gewähren.

Ich bemühte mich, mich aus meiner Starre zu befreien, da ich dringend etwas klären musste.

Während ich zu Frau Scheper stapfte, sah ich mich im Raum um. Marleen war nicht zu sehen.
Das war wohl klar. Normalerweise war es das Letzte jemanden so kurz vor einem Auftritt abzuservieren. Das hatte unseres Lehrerin noch nie zuvor getan.

Als ich schon fast vor ihr stand und in ihr Blickfeld geriet, hob sie abweisend die Hände.

„Oh nein, Rose. Kein wenn und kein aber.
Sei einfach dankbar für die Chance, die sich dir bietet."

„Aber Frau Scheper. Das trifft mich alles ganz unvorbereitet!"

„Du bist die Zweitbesetzung. Du musst immer für solche ungeplanten Fälle gewappnet sein."

„Aber Frau Scheper..."

„Nein, Rose! Ich will mir dein Gejammer nicht anhören. Die anderen Mädchen wären froh, über solch eine Möglichkeit!"

Ich verstummte.

„Entweder du tanzt die Helena, oder aber wir streichen dich komplett aus dem Stück.
Und denke ja nicht, dass wir das nicht tun werden!
Willst du die Mädchen und Jungen im Stich lassen?"

Ich konnte nicht fassen, dass sie mir tatsächlich damit drohte, mich aus dem Stück zu werfen, sollte ich nicht die Hauptrolle tanzen.

„Hör zu, Rose. Herr Marshall ist übrigens ganz meiner Meinung. Unter uns: er hat mich sogar auf die Idee gebracht dich und Marleen auszutauschen."

Herr Marshall war der Tanzlehrer der Jungen.
Wenn einer sagte, Jungs würden, wenn sie Ballett tanzten, aussehen wie Mädchen, dann hatten sie noch keine Bekanntschaft mit ihm gemacht.

Seine Tanzschritte strahlten etwas Maskulines aus.
Ich konnte es nicht beschreiben und dennoch konnte ich mit Sicherheit sagen, dass er kein bisschen ulkig aussah, wenn er tanzte.

Ich war auch davon begeistert, dass er seinen Schülern viel vortanzte.
Frau Scheper tanzte selten ganze Passagen.

Herr Marshall war ein gutaussehender, schwarzhaariger Mann. Wahrscheinlich so Ende Zwanzig. Er wirkte auf mich sympathisch. Lag sicher auch daran, dass er so viel lachte und uns Mädchen immer „Ladies" nannte. Er hatte eine sorglose Umgangsform.

Dennoch hatte er mir nie wirklich Beachtung geschenkt.
Konnte ich ihm nicht verübeln. Ich hätte auch nur Augen für Marleen gehabt.

Doch anscheinend war er nicht so unaufmerksam, wie ich ihn anfangs eingeschätzt hatte. Dadurch sammelte er bei mir unbewusst Pluspunkte.
Diese wurden aber dadurch untergraben, dass er mich für die Hauptrolle vorgeschlagen hatte.
Traute er mir das wirklich zu?
Ich war im Grunde eine Fremde. Bei Marleen hatte es sich sicher herumgesprochen, dass sie zuverlässig sei, aber ich?

Doch ich sollte aufhören, an meinem Talent zu zweifeln. Wenn ich ehrlich war, fühlte ich mich geschmeichelt, dass die Lehrer an mich gedacht hatten. Endlich zahlte sich das ständige Üben aus.

Gerade lehnte Herr Marshall an der Hallenwand. Ich beschloss mich für sein Vertrauen zu bedanken. Also lief ich auf ihn zu. Er hob den Kopf und lächelte mich offen an.

„Was gibt's, Helena?", er meinte es also wirklich ernst.

„Ich wollte mich bei Ihnen bedanken. Für die Chance, die sie mir geben."

„Ach, keine Ursache. Du hast es verdient. Außerdem muss Marleen lernen die Bühne zu teilen.
Wenn du dich nur weiterhin anstrengst, wird sie in dir ihren Meister finden."

„Danke", sagte ich verlegen und schaute zu Boden.

„Na los. Wir sollten mal lieber weiter trainieren.
Nicht, dass Frau Scheper ihre Pfeife noch nach uns wirft", flüsterte er verschwörerisch.
Ich kicherte leise.

„Zutrauen würde ich es ihr.", gab ich zu und bemerkte, dass durch dieses kurze Gespräch ein Großteil meiner Anspannung abgefallen war.

The Guy who was my TeacherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt