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Wir bekamen mal wieder einen Test zurück.
Als Herr Harly an meinem Tisch ankam, sah er mich mit einem Blick an, den ich nicht ganz deuten konnte.
Hart, bestimmt, aber auf irgendeiner Art und Weise auch verschwommen. „Komm nach dem Unterricht zu mir." Meine Lunge schnürte sich fast gleichzeitig mit dem aufprallenden Geräusch des Hefts, in denen meine mittelmäßigen Lösungen hingekritzelt waren, zu.

Ich hasste es meinen Eltern von schlechten Noten zu erzählen. Ich hatte in diesen Momenten immer das Gefühl sie zu enttäuschen.
Sie gaben mir nie das Gefühl nicht gut genug zu sein, doch dazu kam, dass meine Schwester vor zwei Jahren ihr Abitur mit dem Bestergebnis abgeschlossen hatte und jetzt Medizin studierte. Ich machte mir selber Druck und nicht selten habe ich deshalb Nervenzusammenbrüche erlitten.
Was Gefühle anging, war ich ein echtes Wrack.

Ich wagte es noch nicht in mein Heft zu schauen, weshalb ich meinen Blick durch den Klassenraum gleiten ließ.

Als erstes blieben meine Augen an Philip, meinem Exfreund hängen. Er schien ziemlich aufgedreht, wie er mit seinen Armen wild in der Luft herumruderte. Er hatte wohl eine gute Note bekommen.

Das zweite Mal stoppten meine Augen bei Anny. Sie saß mit dem Rücken zu mir, weshalb ich ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, doch sie wirkte angespannt. Ich zischte. Anny war sonst immer ziemlich gut in Mathe, was war mit ihr los?

Ich machte mir Gedanken um sie. Seit zwei Monaten hatte sie einen Freund, den ich nicht wirklich einschätzen konnte. Sie kannten sich nicht lange und dennoch machte er schon Witze darüber, dass sie sich zu einigen Dingen nicht bereit fühlte.

Er war nicht die Art Junge, die man sich für seine beste Freundin wünschte. Er war gefühlskalt, hatte kein Humor und erwartete zu viel von Anny. Die beiden trafen sich jeden Tag, bis in den späten Abend, weshalb sie die Schule komplett vernachlässigte.

Wahrscheinlich bemerkt sie langsam, dass sie wohl auch mal „nein" sagen musste.

Anscheinend spürte sie meine Blicke auf ihr, denn ihre schwarzen Locken wippten hin und her, als sie sich schwunghaft zu mir umdrehte und mich fragend musterte. Erst jetzt bemerkte ich die tiefen Schatten unter ihren Augen. Merkte sie nicht selber, dass das nicht so weitergehen konnte?

Ich zuckte mit den Schultern, um ihr deutlich zu machen, dass ich noch nicht in das Heft geschaut hatte, sie verdrehte die Augen und schaute an mir vorbei, zu Julian. Ich drehte mich auch neugierig um. Julian hob seinen Daumen nach oben, was wohl bedeutete, dass er mal wieder eine eins geschrieben hatte.
Anny applaudierte und Julian fing an zu grinsen. Diese vertrauliche Geste zwischen den beiden, hinterließ einen kleinen Stich in meinem Herzen. Nicht groß genug, um mir panische Gedanken zu machen aber auch nicht zu klein, um ihn ignorieren zu können.

Ich weiß nicht, in was für einer Art Verhältnis die beiden standen. Sie behandelten sich immer so vertraut aber irgendwie waren die beiden noch nie auf die Idee gekommen, stärkere Gefühle füreinander zu bekommen. Und das war auch gut so! Julian gehörte mir!

Na gut, das stimmte zwar nicht ganz, aber wenn es um ihn ging, wurde ich ziemlich schnell besitzergreifend.

Als nächstes betrachtete ich eines der Plakate, die überall an den gelben Wänden hingen. Mit rotem Stift wurde auf einen grünen Untergrund „Die Welt der Pflanzen" geschrieben. Bei dem „l" von „Welt" wurde mit einem Korrekturstift gearbeitet und das Weiß fiel sofort ins Auge.

Von allen Themen in Biologie waren Pflanzen das, was ich am meisten hasste.
Genetik, Anatomie und meinetwegen auch Sexualkunde hatten zumindest etwas mit dem Menschen zu tun. Aber mein Interesse für die Fotosynthese oder die Endodermis der Zelle einer Pflanzenwurzel hielt sich stark in Grenzen.

Ich bemerkte, dass Herr Harly mich beobachtete. Schon wieder stand ich vor einem Rätsel, was sein Blick aussagen sollte.
War es Hass? War es Unverständnis? War es Ungeduld?

The Guy who was my TeacherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt