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Ahsen

Drei Wochen später

„Ich bin so aufgeregt", gab ich zu und spielte nervös mit meinen Fingern. Gleich würde ich meine Tante kennenlernen. Würde sie mich mögen? Würde sie mir etwas über meine Vergangenheit erzählen? Wie war sie so drauf?
„Ich auch", kam es stumm von Ilayda, die ebenfalls nervös hin und her wippte. Berkan fuhr das Auto, während ich auf dem Beifahrersitz saß und Ilayda hinten.

„Warum bist du denn nervös?", schmunzelte ich und sah zu ihr nach hinten. Ich hatte schon seit Wochen die Vermutung, dass zwischen meinem Cousin und ihr etwas lief, da sie immer noch bei ihm zu Hause blieb. Da könnte doch ganz einfach Liebe entstehen. Sie würde ihre zukünftige Schwiegermutter kennenlernen. Wie süß.

„E-Einfach so", kam es beschämt von ihr, während sie ihre Blicke abwendete. Ich setzte mich lachend wieder auf und antwortete auf Ensars Nachricht.
Ensar wollte eigentlich mitkommen, aber ich hatte ihm gesagt, dass es nicht nötig wäre.
Mir ging es seit den Therapiestunden besser und er müsste mich nicht mehr 24/7 begleiten. Ich war mir sicher, dass er wegen mir seine Arbeit vernachlässigt hatte.

„Wie war deine Therapie gestern?", fragte Berkan an mich gerichtet. „Sehr gut. Er meinte in ein paar Therapiestunden hätte ich alles komplett verarbeitet und müsste nicht mehr dahingehen", freute ich mich wie ein Kleinkind.
Ich hatte meine Lebensfreude zurück. Mein Leben ergab jetzt wieder ein wenig Sinn. Emir war nur noch eine schlechte Erinnerung, die ich irgendwann vergessen würde.

Ich blickte aus dem Fenster und sah, dass wir an einem Friedhof vorbeifuhren. Ich presste meine Lippen aufeinander als ich an meinen Bruder denken musste.
„Berkan?", setzte ich an, da ein Gedanke sich in meinem Kopf bereitmachte. „Ja, Kleines?", fragte er und sah kurz zu mir rüber, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.

„Können wir zum Friedhof fahren, E-Erkan besuchen", ich strich mir nervös eine Haarsträhne hinters Ohr. Seit meiner Rückkehr war ich nicht im Friedhof gesehen, weil ich Angst davor hatte zusammenzubrechen, sobald ich seinen Grab sah. Außerdem wusste ich, dass mein Grab sich genau neben seinem befand und das wollte ich genauso ungern sehen. Ensar hatte mir aber vor paar Wochen erzählt, dass es nun weg wäre, weswegen ich eigentlich meinen Bruder besuchen gehen könnte.

„Sicher?", drehte er sich kurz in meine Richtung. Ich nickte ihm bestätigend zu. Ilayda blieb leise.
Vermutlich hatte sie Schuldgefühle, weil ihr Bruder meinen umgebracht hatte.
Sie konnte nichts dafür.
Es war Emirs Schuld, nicht ihre.

„Jetzt?", fragte Berkan sicherheitshalber noch einmal nach. „Ja, bitte", antwortete ich.
Ich wollte unbedingt jetzt dahin, weil ich mich später wahrscheinlich nicht mehr trauen würde. Berkan wechselte die Richtung, während ich mich seelisch darauf vorbereitete.
Ich würde den Grab meines Bruders besuchen.

Die Fahrt verlief still, bis Berkan vor dem Friedhof einparkte. „Ich warte im Auto", kam es nervös von Ilayda, während Berkan und ich ausstiegen. Ich war schon so lange nicht mehr hier gewesen. Ich setzte mich an den Rand seines Grabes und betrachtete die Gravur auf seinem Grabstein.

1992 - 2017.
Er war noch nicht mal 25 Jahre alt als er von uns gegangen ist. Niemand, wirklich niemand hatte es verdient so jung zu sterben. Er trug doch überhaupt keine Schuld, er wollte mich einfach nur beschützen und verlor stattdessen sein Leben.

Ich wischte mir meine Tränen weg, die unauffällig meine Wange hinunter liefen. „Ich warte da drüben auf dich, ja?", wollte mich Berkan alleine lassen, weswegen ich ihm zunickte. Er sah traurig zum Grabstein meines Bruders rüber, bevor er sich leicht distanzierte.

Sein Herz - FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt