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Melinda bereute keine einzige Sekunde, die sie Zippo zu sich genommen hatte. Nur wenn sie an seinen früheren Besitzer, den Brandstifter und Tierquäler Sebastian Winkler dachte, wurde ihr flau in der Magengegend. So weit sie wusste, lag Sebastian noch immer im Koma. Was wäre, wenn er aufwachte, er wieder auf die Beine käme, würde er Zippo zurückhaben wollen? Und wenn ja, wie gut lagen seine Chancen? Wie in den vergangenen Wochen, gelang es Melinda auch jetzt, ihr Unbehagen zu unterdrücken und sich einfach am Dasein des Hundes im Hier und Jetzt zu erfreuen. Eine Sache gab es jedoch, an die sich niemals gewöhnen würde. Wenn Zippo Witterung aufnahm, wenn ihm der Geruch nach Fressbarem in die Nase stieg, zog er sie unbarmherzig und mit aller Kraft zu weggeworfenen Wurstbroten, verwesenden Mäusen, Katzenkacke und Menschenkot.

Das Stöckchen, welches sie ihm vorhin aus dem Maul gezogen und hinunter zum Bahndamm geschleudert hatte, war ihr schon entfallen. Zippo keineswegs. Sobald sie in den schmalen Weg zu den Kleingärten gebogen waren, spurtete Zippo los. Melinda riss es fast den Arm aus der Schulter. Die Einkaufstasche rutschte ihr aus der Hand und fiel in den Schnee. Ein Kohlrabi rollte nach links, drei Äpfel nach rechts. Die Knäckebrotpackung saugte sich voll Wasser. Zippo zog weiter. Einen Augenblick lang war Melinda abgelenkt, ganz hinten, am Zaun des verwilderten Gartens hatte sie eine Bewegung wahrgenommen, eine Katze, kam ins Rutschen, fiel auf den Hintern und schlitterte ein Stück den Bahndamm hinunter bis sich ihre Stiefelspitzen in den Gleisschotter gruben und sie bremste. Hektisch zog sie den Hund zu sich heran. Er hechelte aufgeregt, stand noch immer unter Spannung.
»Ruhig Blut, alter Junge! Was machst du für einen Aufstand?«
In der Ferne hörte sie das mechanische Singen der Regionalbahn, die in wenigen Minuten an ihnen vorbeirauschen würde. Melinda stand auf und ließ sich von Zippo über das Gleisbett ziehen. Erst jetzt fiel ihr der stinkende Stock wieder ein.
»Okay, Sportsfreund, finde dein gammeliges Teil und dann ab nach Hause!«

Sie ließ die Leine etwas länger. Zippo huschte unter einen Busch. Schnee rieselte aus den Zweigen. Mit weiß gepuderter Nase tauchte der Hund wieder auf, nur um kurz darauf in einen weiteren Busch zu tauchen und vollständig darin zu verschwinden. Als Zippo zu ihr zurückkroch, sah Melinda, dass seine Suche erfolgreich war. In seinem Maul klemmte das so schmerzlich vermisste Stöckchen. Grau, dünn, leicht gebogen und von abscheulichem Gestank. Melinda nahm die Leine kürzer und wollte schon wieder umkehren, als sie bemerkte was genau der Hund da zwischen den Zähnen trug. Grau, dünn, leicht gebogen. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen menschlichen Knochen sah. Mit dem Fuß durchwühlte sie den Schnee unter einem der Sträucher, bis sie fand was sie suchte. Ohne Vorwarnung zog sie Zippo den Knochen aus dem Maul und ersetzte ihn durch den Stock. Der Hund schien kurzzeitig irritiert, akzeptierte den Tausch aber ohne Murren. Schnell ließ Melinda den Knochen in der Manteltasche verschwinden.
Anatomie hatte im Studium nicht auf dem Lehrplan gestanden, doch Melinda liebte Obduktionsberichte, die sie penibel las und denen sie ihr breit angelegtes Wissen über den Aufbau des menschlichen Körpers und die unerschöpflichen Möglichkeiten des Sterbens verdankte. Wie sonst hätte sie Bullerjahns Frage, damals am Fundort der Leiche, nach dem Todeszeitpunkt der falschen Stella beantworten können? Sie hatte mit Fliegeneiern, Maden und Schlüpfzeiten geantwortet und Bullerjahn sichtlich überrascht.

Wenn sie sich nicht irrte, trug sie just in diesem Moment eine menschliche Elle in ihr Gartenhaus. Wo hatte Zippo sie gefunden? Gab es dort noch weitere Knochen? Ihr Garten war eingezäunt. Er musste das Ding also auf ihrem Grundstück gefunden haben. Ein menschlicher Knochen in ihrem Garten? Melinda dachte unwillkürlich an die Geschichten, die Elke Schrader von ihrem Großvater erzählt hatte. Kriegsende. Zwangsarbeiter im Steinbruch. Aufseher im Lager Katzenstein. Sie dachte auch an das Schwarzweißfoto, welches sie bei ihrem ersten Besuch im Gartenhaus gefunden und eingesteckt hatte. Gescheitelte Jungs in Uniform. Im Hintergrund die Hakenkreuzfahne. Wohnte sie auf einem Friedhof? Sie begann zu zweifeln, dass Zippo einen Menschenknochen gefunden hatte. Der alte Schrader hatte wohl kaum menschliche Leichen in seinem Garten verscharrt, aber wie Melinda wusste, war er ein Hundenarr gewesen. Lag es da nicht auf der Hand, dass er seine Lieblinge nach dessen Tod hier begraben hatte, hier zwischen Erdbeeren, Kohlrabi und Freilandtomaten, die Elle demnach von einem seiner Hunde stammte? Natürlich, das war es! Melinda schalt sich selbst einen Narren. Die Fantasie war mit ihr durchgegangen. Sie nahm sich vor, gleich nachher eine Gartenrunde zu machen und nach den Hundegräbern zu suchen.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt