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Dicke Schneeflocken tanzten vor dem Fenster. Melinda lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke, über die das grellblaue Licht der Tankstelle kroch. Sie sah aufs Handy. 2:44 Uhr. An Schlaf war nicht zu denken. Nicht einmal die Schlaftabletten, die sie vor zwei Stunden genommen hatte, halfen.
Wieder und wieder las sie Jans Nachricht.

Weshalb hast du nicht gewartet? Habe ich etwas falsch gemacht?
Zwinkertanne. Lachendes Eichhörnchen.

Melinda fühlte sich mies. Nein, er hatte nichts falsch gemacht. Sie war es, die neben der Spur lief, die anderen Menschen vor den Kopf stieß. Menschen, die sie schätzte, Menschen, die sie mochte. Arndt zum Beispiel, und Jan.

Alles in Ordnung. Du hast nichts falsch gemacht! Ich brauche nur etwas Zeit. Ich melde mich.
Kein Smiley, kein lustiges Waldtierchen.

Melinda wartete, doch auch nach zehn Minuten hatte Jan die Nachricht nicht gelesen. Was erwartete sie? Vernünftige Menschen schliefen nachts. Sie dachte an Silva, Jans Hündin, und dass sie sich bestimmt gut mit Zippo verstehen würde. Obwohl sie eine Jagdhündin war, hatte sie so sanft und zutraulich auf Melinda gewirkt. Ein guter Charakter. War Zippo eigentlich kastriert? Weshalb fiel ihr das gerade jetzt ein? Sie nahm sich vor, Dr. Grimme dazu zu befragen.

Als hätten ihre Gedanken den Hund aufgeweckt und ihn aufgefordert zu ihr zu kommen, hörte Melinda plötzlich ein kratzendes Geräusch an der Tür. Sie warf die Decke zurück, stand auf und öffnete. Zippo stürmte zu ihr ins Zimmer, sprang an ihr hoch und versuchte, ihr das Gesicht zu lecken.

„Ist gut, mein Großer! Ist gut! Musst du raus? Lust auf einen Spaziergang? Ich kann auch nicht schlafen!"

Zippo schien sie genau zu verstehen. Aufgeregt drehte er sich im Kreis und lief anschließend hinaus in den Flur, wo er vergeblich versuchte, die Leine von der Garderobe zu zerren. Melinda zog sich rasch an, entschied sich für doppelte Socken und einen Pullover mehr, ging zu Zippo in den Flur, schlüpfte in ihre Stiefel, wickelte sich den Schal um den Hals, streifte sich ihren Mantel über und ließ ihre Haare unter einer dicken Wollmütze mit Bommel verschwinden. Es war ihr egal wie sie aussah, um diese Zeit würde sie sowieso niemandem begegnen. Leise, um Arndt nicht zu wecken, schlich sie sich aus der Wohnung.

Vor dem Haus blieb sie stehen und sah zur Tankstelle hinüber. Arbeitete Sophie um diese Zeit noch? Musste sie morgen nicht zur Schule? Melinda versuchte, Sophie im Verkaufsraum auszumachen, konnte sie aber nicht entdecken.
Melinda lief am Präsidium vorbei, ließ Zippo auf einem kleinen Rasenstück pinkeln und nahm dann denselben Weg, den Bullerjahn ihnen damals gezeigt hatte, damals, als sie gerade frisch in Osterode angekommen waren. Hinunter zur Söse, die heute Nacht ruhiger, grau und kalt dahinfloss, dann die einsame, nur spärlich beleuchtete Wohnstraße entlang, am Autohaus vorbei, an dessen Scheiben jemand ein Graffiti gesprüht hatte, vorbei an dem noch immer geschlossenen Kino in die menschenverlassene Fußgängerzone.

Melinda zog den Schal enger und die Mütze noch etwas weiter über die Ohren. Es war Mitte Oktober und schon verdammt kalt. Sie fror.
Doch wie hübsch dieses Städtchen heute Nacht aussah mit seinen weiß überpuderten Dächern, dem eisig glitzernden Kopfsteinpflaster und dem warmen Licht, das die Straßenlaternen verbreiteten. Es wirkte so friedlich, so behaglich. Völlig undenkbar, dass hier vor wenigen Tagen eine junge Frau umgebracht wurde, ein wahnsinniger Brandstifter sein Unwesen getrieben hatte. Was hatte Christiansen bei Melindas und Arndts Ankunft damals gesagt? Dass es in diesem Städtchen einfach zu wenig Mord und Totschlag für eine Mordkommission gab? Melinda hätte beinahe gelacht, wäre sie sich dabei nicht so albern vorgekommen, weil sie so völlig allein zwischen all den Häusern herumlief.

Auf Höhe des Alten Rathauses musste Zippo plötzlich sein Geschäft verrichten. Melinda zog ihn unter die alte Kastanie, die in einer unbeleuchteten Seitengasse stand. Vergeblich bemühte sie sich, das Häufchen mit dem Stiefel in der festgefrorenen Erde zu verscharren. Tüten, dachte sie, ich muss Kacketüten besorgen. Diese schwarzen, blickdichten Dinger von der Rolle.

Melinda wollte die Gasse gerade wieder verlassen, als sie es im Geäst über sich knacken hörte. Sie riss den Kopf nach oben und nahm Zippo, der augenblicklich zu knurren begann, fester an die Leine. Ein plötzlicher Wind kam auf, fegte um Ecken und Mauern, suchte sich seinen Weg zu Melinda und brachte die Zweige und Äste des Baumes über ihr zum Rauschen. Trockene Blätter fielen wie Schneeflocken herab und wirbelten in die dunkle Gasse hinein.
Melinda starrte in die Baumkrone hinauf. Saß dort oben jemand? Es war so dunkel und die Äste behinderten ihren Blick.

„Zippo, lass uns von hier verschwinden!"

Doch der Hund dachte gar nicht daran. Er setzte sich auf sein Hinterteil, starrte hinauf in den Baum und knurrte leise.
Der Wind ließ etwas nach, das Rauschen nahm an Intensität ab, doch übrig blieb ein Murmeln. Knarzig, rau wie brechendes Holz. Und uralt. Selbst wenn in diesem Moment die Fenster rundherum aufgesprungen wären und die Leute die Köpfe herausgestreckt hätten, hätten sie doch nichts weiter gehört, als das Heulen des Windes und das Rauschen einer alten Kastanie. Nicht so Melinda. Die Kastanie sprach zu ihr oder genauer: das, was dort oben zwischen den Ästen saß, sprach zu ihr.

„Du hast die richtige Entscheidung getroffen, Melinda Sieben. Weg von den ganzen Idioten und Dummköpfen. Die Dinge selbst anpacken, den eigenen Weg gehen."

Melinda versuchte noch immer, einen menschlichen Umriss zu erkennen, doch insgeheim wusste sie bereits, dass sie sich die Mühe schenken konnte. Der Wandersmann war alles und gleichzeitig nichts. Er war hier und dort zur selben Zeit. Sein Aussehen wechselte er nach Belieben wie die Menschen ihre Kleidung.

„Was genau bist du, Wandersmann? Und was willst du von mir?"

„Oh, einen hübschen Namen hast du mir gegeben!"

„Er stand unter deiner Botschaft, die du mir auf dem Küchentisch hinterlassen hast!"

„Hübsch, nicht wahr! Besser Lösungen für kleine Probleme finden, denn dann lösen sich auch die großen Probleme. Eines meiner Lieblingszitate. Und, wie gefällt es dir?"

Melinda schwieg und sah zu Zippo hinunter, der noch immer unruhig in die Kastanie starrte. Hörte sie das alles wirklich? War der Wandersmann Realität oder bloß wahnwitziger Ausdruck ihres ausgezehrten Körpers, ihrer völlig überstrapazierten Psyche? Sie zog den Schal über die Ohren, um der Stimme nicht länger lauschen zu müssen, doch das half nichts. Sie wickelte die Leine um ihr Handgelenk und zog Zippo mit aller Kraft weg von der Kastanie. Erst wehrte er sich und versuchte sitzen zu bleiben, gab dann aber nach und trottete widerwillig hinter Melinda her.

„Ach komm, Melinda Sieben, du weißt doch, dass du nicht vor mir davonlaufen kannst! Du und ich, wir gehören zusammen, wir sind aneinander gekettet seit ..."

Melinda blieb abrupt stehen.

„Wir sind aneinander gekettet? Was willst du damit sagen, Wandersmann? Was meinst du damit?"

Äste knackten. Blätter wirbelten herab. Zweige peitschten aneinander. Weshalb fiel Melinda gerade jetzt die Geschichte vom brennenden Busch ein, eine Geschichte, die sie als kleines Mädchen bis in den Schlaf verfolgt hatte, nachdem ihr gottesfürchtiger Großvater sie ihr erzählt und dabei in den buntesten Farben ausgeschmückt hatte?

„Die Hütte im Wald. Du weißt, welche ich meine. Sie ist nicht irgendeine Hütte und sie steht nicht an irgendeinem Ort. Wir zwei sind uns schon einmal begegnet. Denke nach, Melinda Sieben. Denke nach!"

Ein meckerndes Lachen war zu hören, gleichzeitig nahm der Wind erneut an Kraft zu, blies Melinda beinahe die Mütze vom Kopf, ließ Zippos Ohren flattern. Jetzt reichte es. Melinda zog den Kopf zwischen die Schultern und verließ die Gasse mit weit ausgreifenden Schritten.

Hinter ihr ein Heulen, ein Kichern und Feixen, das leiser wurde und schließlich erstarb, als Melinda das schützende Portal der Marktkirche erreichte.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt