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Es war noch dunkel im Garten als Melinda erwachte. Das Handy zeigte 05:34 Uhr. Sie hatte unruhig geschlafen. Träume voller wahnwitziger Bilder und verrückter Versatzstücke der Wirklichkeit hatten sie immer wieder hochschrecken lassen. Erinnern konnte sie sich an keinen von ihnen. Bereits gestern Abend, als sie mit Jannik und Sophie zusammengesessen hatte und sie sich in wilden Spekulationen über Stellas Tod ergingen, meinte sie das nahende Ende des Falls zu spüren. Woher sie das Gefühl nahm, wusste sie nicht. Es konnte mit dem erneuten Schneefall zusammenhängen oder mit der Tatsache, dass sie nun zwei Helfer an ihrer Seite wusste, vielleicht aber auch an der Stellung der Planeten oder der neuesten Botschaft des Wandersmanns. Das Blatt mit den Aufzeichnungen vom Vorabend lag noch immer auf dem Tisch. Es war ihr gestern nicht mehr gelungen, die Worte zu entschlüsseln. Heute wollte sie einen neuen Versuch starten.

Den gestrigen Abend hatten sie mit Früchtetee begonnen, waren dann zu Pfefferminztee und schließlich zu Schwarztee mit Schuss übergegangen nachdem Melinda zur Überraschung aller eine halbvolle Flasche Rum im Regal gefunden hatte. Jannik berichtete ausführlich über die Gramberger Skatrunde und ihre Mitglieder. Er schlug vor, nicht nur Jan Dressler, sondern auch die anderen Männer, Joost, Martin, Lothar und Peter, unter die Lupe zu nehmen. Sie diskutierten lange über den Sinn einer solchen Aktion. Konnte einer von ihnen Stellas Mörder sein? Melinda hielt das für unwahrscheinlich. Der Pilzkorb, in der der Täter ihren Kopf gesteckt hatte, die braune Kutte, die sie trug, schließlich der Bademantelgürtel, mit dem sie erwürgt worden war. Zu viele Zeichen, zu viele mögliche Hinweise auf eine Botschaft des Täters, zu viel Aufwand für jemanden, der Stella nur flüchtig kannte. Stellas Doppelidentität hatte sie vor Jannik und Sophie geheim gehalten. Während des Gesprächs war Melinda erneut bewusst geworden, wie wenig sie noch immer über Nina wusste. Sie hatte eine Freundin gehabt, Sonja. Beide kannten Richard Harms, den Räuber. Morgen würde Arndt ihr das Dossier über Harms geben, vielleicht sah sie dann klarer. Melinda war voller Hoffnung, den Fall bald abschließen zu können, gleichzeitig fiel es ihr schwer, an Wunder zu glauben. Dafür waren die Ermittlungen zu chaotisch verlaufen.

Sie setzte einen Kaffee auf und sah durchs Fenster nach draußen. Im Osten färbte sich der Himmel rot. An der Scheibe funkelten Eiskristalle. Eine frühe Amsel hüpfte durch den Schnee, blickte zu Melinda hinüber und verschwand dann im Dunkel zwischen den Obstbäumen. Manchmal, dachte Melinda, wäre sie auch gern ein Vogel. Dann bräuchte sie nichts weiter tun, als durch den Garten zu springen, nach Würmern zu picken und jedes Jahr ein Nest zu bauen. Das Leben einer Ermittlerin hingegen war komplex. Manchmal zu komplex. Dieses ständige Abwägen, das Ringen um Entscheidungen, dieses misstrauische Nachhaken und Wachsambleiben. Sie brauchte eine Pause. Sobald der Fall abgeschlossen war, wollte sie sich einen Urlaub gönnen, von was auch immer sie den bezahlte.
Sie wartete bis neun, dann rief sie Bullerjahn an und bat ihn, sie um elf am Eingang des Präsidiums abzuholen und sie zu Eberts Archiv zu begleiten. In seiner Nähe konnte sie sichergehen, nicht von ehemaligen Kollegen angequatscht zu werden, die von ihr wissen wollten, was sie im Präsidium verloren hatte. Während sie ihren Kaffee schlürfte und nebenbei in der Fallakte blätterte, stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase. Sie steckte das Gesicht tief in den Ausschnitt ihres Pullovers und anschließend unter die Achsel. Nicht auszuhalten! Zippo roch angenehmer, selbst wenn sein nasses Fell vor dem Ofen trocknete. Sie musste dringend duschen. Im Präsidium gab es Umkleideräume mit angeschlossenen Waschräumen. Eine Gelegenheit, die sie sich nicht entgehen lassen durfte.
Da sie Zippo nicht mit ins Archiv nehmen wollte, fragte sie ihre Nachbarin Nicki, ob er für zwei, drei Stunden bei ihr bleiben konnte. Nicki war einverstanden und versprach, gut auf ihn aufzupassen.
»Lass ihn bitte nicht an deinen Pflanzen knabbern, er ist nämlich sehr neugierig!« Nicki schwor auf das Leben ihrer Mutter und fuhr fort, den Gartenweg von Schnee zu befreien.

Weil die Straßen vereist waren, ging sie heute zu Fuß zum Präsidium. Als sie an dem zugewucherten Garten entlangkam, bemerkte sie an der Gartenhütte eine Bewegung. Melinda blieb stehen. Eine junge Frau schaute zu ihr herüber und lächelte freundlich. Kinder liefen um die kahlen Obstbäume und bewarfen sich mit Schnee. Melinda gefiel die Vorstellung, dass der wilde Garten neue Bewohner bekam. Elke Schrader hatte ihr erzählt, wie die Familie hieß. Apfel? Anders? Nein, Abel hieß sie. Er war Berufsschullehrer, sie Kinderärztin. Melinda winkte und setzte ihren Weg fort.
Am Präsidium angekommen, fiel ihr wieder ein, dass Bullerjahn freitags nicht arbeitete. Kam er nur wegen ihr hierher? Ihre Befürchtungen lösten sich in Luft auf, als er aus dem Eingang trat und ihr über den Parkplatz entgegenlief.
»Na Ex-Kollegin, alles im grünen Bereich?«
Melinda musterte sein ungewohnt farbenfrohes Hemd, auf dem winzige Katzen ebenso winzigen Hunden hinterherjagten. Es war gebügelt, richtig geknöpft und steckte ordnungsgemäß in der Hose. Bullerjahn hatte sich rasiert und seine Haare kürzen lassen. Sie standen dennoch in alle Himmelsrichtungen vom Kopf ab.
»Wenn wir nicht über meinen Kontostand, meine Liebe zu Rauschmitteln und meine arschkalte Gartenhütte sprechen, dann geht es mir gut.«
Bullerjahn kräuselte die Nase und wollte etwas sagen, doch Melinda kam ihm zuvor.
»Nein, ich bin nicht in Hundescheiße getreten! Das bin ich! Kann ich mich im Umkleideraum duschen, bevor ich ins Archiv gehe? Habe auch ein Handtuch und Seife dabei.«

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt