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Eberts letzte Tagebuchzeilen sprangen noch immer Trampolin in ihrem Kopf als sie aus dem Archiv stürmte.

Ich bin schuld. Ich bin an allem schuld. Ich darf nicht leben.

Melinda war erschüttert. Sie hatte weder daran gedacht, das Licht auszuschalten, noch die Tür zu schließen. Auch die Zugangskarte lag noch irgendwo auf dem Schreibtisch. Alles egal. Nur weg hier.

Mehrere Stunden lief sie ziellos durch die verschneite Stadt. Sie spürte weder ihre kalten Finger, noch den schneidenden Wind, der ihr in den Kragen fasste. An der Flussmauer stolperte sie über einen demolierten Mülleimer und stieß sich das Knie. Es schmerzte höllisch doch sie rappelte sich hoch und lief einfach weiter. Immer am Fluss entlang, über eine Brücke, an einem Kiosk und einer McDonalds-Filiale vorbei, hinaus aus der Stadt. Irgendwann ging ihr die Puste aus und sie blieb stehen. Wo war sie? Links von sich erkannte sie einen kleinen Park mit maroden Bänken und einem rostigen Klettergerüst, rechts einen Billig-Supermarkt, der Restposten für Haus und Heim verkaufte. Geradeaus ging es in ein Industriegebiet. Melinda sah Rolltore, Kräne und Schienengleise. Nirgends eine Menschenseele. Sie sah auf ihr Handy. Schon nach 15 Uhr. Sie musste zurück zu Zippo. Und um 19 Uhr begann Beas Lesung, doch sie wusste nicht, ob sie überhaupt noch hingehen sollte. Hermann Ebert hatte ihren Vater erschossen. Wieviel Schicksal musste aufeinanderprallen, damit so etwas geschah? Ihr Vater war als Schamane durch den Harz gezogen? Wusste ihre Mutter davon? Sicherlich nicht, denn dann hätte sie Melinda nicht erzählt, dass er sich mit anderen Frauen amüsierte. Hatte ihre Mutter gedacht, dass Melinda die Flucht ihres Vaters besser verkraften würde, wenn sie ihr dessen Aussteigerpläne verschwieg? Oder hatte sie befürchtet, dass Melinda es ihm früher oder später gleichtun würde? Henry David Thoreau. Walden. Burrhus Frederic Skinner. Walden Two – die Vision einer besseren Gesellschaft, Melindas Entscheidung, den Garten zu kaufen und aus dem Polizeidienst auszuscheiden, Nina und Sonja, zwei junge Frauen, die sich in einem Kleingarten versteckten. Merkwürdig, wie eng die Dinge und Ereignisse manchmal zusammenhingen und es einem wirklich schwermachten, an Zufälle zu glauben.

***

Nicki war nicht in ihrem Garten. Auch von Zippo war weit und breit nichts zu sehen. Konnte es sein, dass die zwei einen Spaziergang machten? Eher nicht. Melinda hatte ihr keine Leine gegeben und einen fremden Hund würde Nicki nicht frei herumrennen lassen! Der Gartenstuhl lehnte zusammengeklappt an der Hütte. Alles wirkte aufgeräumt. Keine Farbeimer, keine Pinsel, keine schmutzigen Lappen. Nur das violette Licht der Cannabis-Lampen waberte durch die Vorhänge. Vor der abgeschlossenen Tür lagen ausgedrückte Joints im Schnee. Bei Gelegenheit würde Melinda Nicki den Tipp geben, die Fenster blickdichter zu verschließen, wenn sie vermeiden wollte, das irgendein neugieriger Nachbar ihre Weed-Plantage bei der Polizei verpfiff.

Das erste, was ihr auffiel, als sie ihren Garten betrat, waren die vielen Spuren im Schnee. Abdrücke von Hundepfoten und großen Schuhen mit derbem Profil. Waren das Zippos Spuren? Unwillkürlich griff Melinda sich an den Hosenbund. Verdammt! Sie hatte ihren Revolver in der Hütte gelassen. Neben der Eingangspforte fand sie eine abgesägte Dachlatte. Die tat es zur Not auch. Rauch kringelte sich aus dem Schornstein. Im Fenster sah sie Licht brennen. Jemand war in der Hütte. Geduckt schlich Melinda zur Eingangstür und lauschte. Im Haus knarrten die Bodendielen, jemand öffnete einen Schrank und schloss ihn wieder. Geschirrgeklimper. Melinda zählte still bis drei. Dann riss sie die Tür auf und sprang mit erhobener Dachlatte in die Hütte. Sie erstarrte. Arndt? Was machte der denn hier? Ihr Kollege stand am Herd und rührte seelenruhig mit dem Holzlöffel in einem Topf.
»Spaghetti mit roter Soße. Bist du einverstanden?«
Er drehte sich um und strahlte Melinda an. Melinda fand, dass er großartig aussah. Seine Haare waren vom Herumtollen mit Zippo verstrubbelt, die Wangen leicht gerötet. Er war frisch rasiert und duftete nach teurem Aftershave. Was war hier los?
»Viele Grüße von Lissi! Sie sagt, du bist auf Zack! Sie vermisst dich!«
Ach, so lief der Hase. Arndt war bei Lissi gewesen. Daher das Grinsen im Gesicht. Melinda ließ sich auf die Eckbank fallen und knallte Eberts Tagebuch auf den Tisch. Arndt leckte sich den Daumen ab.
»Freust du dich nicht, dass ich dir was koche? Ich habe mir Sorgen gemacht!«
»Sorgen?«
Melinda schnalzte mit der Zunge. Um eine Melinda Sieben brauchte man sich nicht zu sorgen.
»Du hast mit Zippo gespielt?«
Der Hund kam zu ihr und legte ihr den Kopf auf den Oberschenkel.
»Braver Junge!«
Arndt ließ die Spaghetti ins Wasser gleiten.
»Ich weiß!«
Melinda bedachte ihn mit einem strafenden Blick. Arndt freute sich über seinen Witz. Er schloss die Tür und legte einen Holzscheit aufs Feuer. Dann goss er Melinda aus der Thermoskanne Kaffee in einen Becher und stellte ihn auf den Tisch.
»Was wird das, Arndt?«
»Keine Sorge! Spontan aufkommendes Helfersyndrom. Verschwindet bald wieder!«
Melinda bemerkte erst jetzt, wie sehr sie Arndts Sprüche vermisst hatte. So hart er mit anderen manchmal auch umsprang, sie selbst behandelte er meist fair. War da seinerseits vielleicht ein Hauch Sympathie im Spiel?
»Was macht Lissi? Geht es ihr gut?«, fragte Melinda.
Arndt stocherte mit dem Kochlöffel in den Nudeln herum.
»Olivenöl ins Nudelwasser, ja oder nein? Da scheiden sich die Geister ...«
»Ich bin für Olivenöl.«
»Ich auch. Blöd nur, dass du keins dahast!«
Melinda trank von dem Kaffee. Er war genau richtig. Arndt wusste, wie sie ihn mochte. Rehbraun.
»Hast du Zippo bei der Nachbarin abgeholt?«
»Du meinst Nicki?«
Ihren Vornamen kannte er also auch schon. Weshalb gefiel ihr das nicht?
»Sie hat ihn rübergebracht, als sie sah, dass jemand hier ist. Bist du sicher, dass Zippo gut bei ihr aufgehoben ist?«
»Warum?«
»Sie wirkte ordentlich zugedröhnt. Nimmt sie Medikamente?«
Melinda zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Kenne sie kaum.«
Der Kaffee war wirklich gut. Arndt stellte das Fenster auf Kippe, damit der Nudeldampf abziehen konnte.
»Hast du Parmesan?«
»Nur Gouda.«
Arndt öffnete den Kühlschrank und hielt nach kurzer Suche ein mit blauem Schimmel überzogenes Etwas in die Höhe.
»Klarer Beweis von Käsevernachlässigung!«
»Bin ich jetzt verhaftet?«
Um eine Diskussion über Haushaltsführung zu vermeiden, wollte sie noch einmal das Thema »Lissi« ansprechen, doch Arndt kam ihr zuvor.
»Stell dir vor, sie will mich ständig zeichnen.«
»Ist doch schön!«
Dass Arndt mehr als ansehnlich war und sich ihrer Meinung nach hervorragend als Modell eignete, behielt sie für sich. Doch was waren das für Gedanken? Was war heute los mit ihr? Welche Frage! Das Ziehen im Mittelbauch und die gespannte Brust waren deutliche Hinweise. Es war immer dasselbe. Zur Mitte der Periode nahmen ihre erotischen Tagträume exponentiell zu. In diesem Zustand musste sie damals auch Jan ihre Nummer auf den Unterarm geschrieben haben. Anders konnte sie sich diese Wahnsinnstat nicht erklären.
»Auf ihren Zeichnungen sehe ich immer jünger oder älter aus, als in Wirklichkeit. Was will sie mir damit sagen?«
Er fischte eine Spaghetti aus dem sprudelnden Wasser und steckte sie sich in den Mund.
»Noch fünf Minuten.«
»Vielleicht freut sie sich auf ein Leben mit dir bis ins hohe Alter oder sie will erkunden wie du als kleiner Bengel ausgesehen hast. Sie beschäftigt sich mit dir.«
Er setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und stützte seine Ellenbogen auf. Melinda stieg erneut sein wohlduftendes After Shave in die Nase.
»Soll ich dir sagen wie es ist? Sie kann nicht abschalten. Auch in ihrer Freizeit ist sie Phantombild-Lissi. Ständig will sie an meinem Gesicht herummodellieren!«
Melinda fand, dass das verrückt klang. Und Arndt wusste es auch.
»Zeichnet doch zusammen! Hast du ihr schon mal deine Skizzenbücher gezeigt?«
Melinda hätte sich ohrfeigen können. Weshalb zum Teufel gab sie Arndt Beziehungstipps für Lissi?
»Das ist abgefrühstückt.«
»Schade.«
»Vielleicht! Die Nudeln sind fertig.«

Wenige Minuten später standen zwei Berge Spaghetti mit viel Tomatensoße auf dem Tisch. Arndt wünschte guten Appetit. Melinda kaute bereits.
»Was ist das für ein Buch?«
Arndt zeigte mit der Gabel auf Eberts Tagebuch. Melinda puhlte sich eine heruntergefallene Nudel von der Hose und gab sie Zippo.
»Die Lösung zu allem.«
»Klingt vielversprechend. Geht es genauer?«
»Später vielleicht.«
»Na gut. Dann habe ich etwas für dich ...«
Arndt stand auf und ging zur Garderobe. Aus einer Umhängetasche zog er einen Stapel Ausdrucke, die in einem Pappumschlag steckten. Melinda sah ihren Kollegen fragend an.
»Der Fall Richard Harms. Wie versprochen.«
Er legte das Konvolut neben das Tagebuch.
»Ich dachte, es wäre besser wenn ich es dir jetzt schon gebe und nicht heute Abend bei Beas Lesung. Muss ja nicht jeder mitkriegen.«
Melinda lächelte dankbar und klopfte mit der Hand auf den Papierstapel.
»Und? Hast du's gelesen?«
»Ich hab's überflogen.«
»Gib mir eine Zusammenfassung!«
»Nur wenn du mir hinterher sagst, was die Harms-Geschichte mit Stellas Tod zu tun hat.«
Melinda zögerte, drehte noch ein paar Spaghetti auf die Gabel und ließ sie in ihrem Mund verschwinden.
»Einverstanden.«
Arndt legte die Gabel zur Seite.
»Richard Harms kam am 07.11.1985 in Paderborn zur Welt. Grundschule, Gymnasium in Paderborn. Sein Vater zwingt ihn zu einer Lehre als Einzelhandelskaufmann. Er soll den elterlichen Edeka-Markt übernehmen. Richard will eigentlich Krankenpfleger werden. 2000 taucht er zum ersten Mal bei den Falken auf, dieser sozialistischen Organisation. Er klebt illegal Plakate, geht auf Demos, prügelt sich mit Rechten. Nachdem er die Ausbildung hingeschmissen hat, studiert er ab 2005 Sozialwissenschaften in Göttingen. In dieser Zeit kommt es zu keinen Auffälligkeiten. 2011 überfällt er einen Rewe-Markt in Northeim und wird festgenommen, weil sein Fluchtauto verschwunden war. Von den entwendeten 200.000 Euro hat Harms nur 5.000 bei sich. Einer der Mitarbeiter behauptete, zwei weitere Maskierte gesehen zu haben. Später stellte sich heraus, dass der Mitarbeiter stark alkoholisiert gewesen war und vermutlich weiße Mäuse gesehen hat.«
Das schien ein interessanter Nachmittag zu werden. Melinda setzte neuen Kaffee auf.
»Taucht Stellas Name in der Akte auf?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Wie ist es mit einer Nina oder einer Sonja?«
Arndt dachte nach. Dann blätterte er durch die Ausdrucke und zog die Fotokopie einer Notizbuchseite heraus.
»12. April 2011. Richards Vater Dieter Harms ruft einen Tag nach seiner Befragung bei der Kripo Göttingen an und schildert, was ihm morgens unter Dusche nachträglich eingefallen ist. Wenige Tage vor dem Raubüberfall war Richard noch einmal zu Hause und hat ein paar Gegenstände aus der Garage geholt. Bei ihm waren zwei junge Frauen, die er seinem Vater als Sonja und Nina vorstellte.«
Bingo. Da war er der Beweis. Am liebsten hätte Melinda Arndts Kopf zu sich herangezogen und ihn auf seine vollen Lippen geküsst. Nina alias Stella und ihre Freundin Sonja hatten Richard Harms gekannt. Stella hatte mit Richard studiert. Lag es da nicht nahe, dass auch Sonja mit ihm die Uni besucht hatte? Richard, Sonja, Nina. Ein Dreiergespann. Richard der Drahtzieher mit den vier Tattoos. Hund und Bär, Drache und Löwe. Sonja und Nina, die sich als Zeichen ihrer Verbundenheit Richards Hund und Bären hatten stechen lassen. Richard Harms hatte zwei Helferinnen gehabt und der betrunkene Lagerarbeiter die Wahrheit gesagt.

»Hört sich ganz so an, als hätten Nina und Sonja ihren Chef in die Falle laufen lassen. Sie schnappten sich das Geld und türmten mit dem bereitstehenden Wagen. Welchen Weg auch immer sie genommen haben, wo auch immer das Fluchtfahrzeug geblieben ist, ihre Reise endete hier in Osterode.«
Arndt fiel die Kinnlade herunter.
»Und es kommt noch besser. Vom Zeitpunkt ihrer Flucht bis 2015 versteckten sich die beiden im hintersten der Kleingärten.«
Melinda zeigte in Richtung Osten.
»Mein Nachbar Herr Kessler hat Stella auf dem Zeitungsfoto wiedererkannt. Er kannte sie nur als Nina. Von Stellas Eltern hat Skagen erfahren, dass sie ein anderes Tattoo als die Tote trägt. Stella ist nicht Stella, Arndt. Sie hat unter falschem Namen gelebt.«
»Ist denn Nina ihr richtiger Name?«
»Weiß ich nicht.«
»Und Sonja? Heißt sie wirklich so?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Melinda sah auf ihr Handy. Jemand hatte mehrmals versucht, sie zu erreichen. Sie schaltete den Flugmodus aus. Wann hatte sie den aktiviert? Die Anrufe waren von Jannik. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass es wichtig war, doch sie rief zurück. Jannik ging gleich ran. Er klang aufgeregt.
»Jannik, was gibts?«
»Vier ihrer Kollegen waren hier, hatten einen Durchsuchungsbefehl dabei.«
»Gut frisiert, arroganter Blick, perfekt gebügelte Dienstuniform?«
»Zwei von ihnen ja. Die beiden anderen waren normale Streifenbeamte.«
Melinda legte die Hand aufs Handy und sah Arndt an.
»Die Experten waren bei Gramberg!«
Arndt rollte Spaghetti auf die Gabel und lauschte aufmerksam. Melinda setzte das Gespräch mit Jannik fort.
»Und? Haben sie was gefunden?«
Jannik druckste hörbar herum.
»Nee. Ich habe es noch rechtzeitig verstecken können. Kannst du herkommen?«
»Oh Gott Jannik, spanne mich nicht auf die Folter! Was hast du versteckt?«
»Stellas Koffer. Da waren ein Perso und ein Reisepass drin.«
»Von wem?«
»Von einer Iris Brandt. Und sie sieht genau so aus wie Stella!«

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt