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Als Bullerjahn und Bea klar wurde, dass Melinda den Fall Stella praktisch im Alleingang gelöst hatte, nahm die nächtliche Party zusätzlich an Fahrt auf. Eine Runde folgte der nächsten. Bier, Wein, Schnäpschen und dann das ganze wieder von vorn. Es war bereits nach drei als sie aus dem Scheffelstübchen hinaus in die märchenhaft stille Winternacht stolperten. Arndts Angebot, sie nach Hause zu bringen, lehnte Melinda dankend ab. Er hätte ihr nicht helfen können, dazu war er viel zu betrunken. Genauso betrunken wie sie. Sie erlaubte ihm jedoch, sie bis zum Parkplatz oberhalb ihres Gartens zu begleiten. Die restlichen Meter schaffte sie allein. Drei Anläufe benötigte sie für das Auffinden der Gasse, die sie in Richtung ihres Gartens führte, obwohl Arndt an ihrer Seite war. Mit dem Rad zu fahren war ihr unmöglich, also schob sie es. Doch auch das gelang ihr nur mit Mühe. Dreimal rutschte sie aus und fiel hin, zweimal wollte das Rad nicht in dieselbe Richtung rollen, in die sie ging. Es war lange her, dass sie so betrunken gewesen war. Schon jetzt fürchtete sie sich vor dem Kater, der sie nach dem Aufwachen in seine Krallen nehmen würde. Sie dachte darüber nach, ob Sigi noch immer in Abels Garten herumkroch und Knöchelchen freilegte. In ihrem Rausch erwog sie, ihm dabei zu helfen, Gefrierbeutelchen um Gefrierbeutelchen mit dünnen, grauen Knabberknochen zu füllen, sie zu beschriften. »Haltbar bis 20. Dezember 2020«. Sie kicherte.
Auf Höhe des ehemaligen Spritzenhauses war Arndt auf einmal verschwunden. Dann war er wieder da. Melinda rieb sich die Augen. Die Stimme des Wandersmannes, ihres Vaters, erklang erneut an ihrem Ohr. Ihr Kopf schmerzte. Ihr schwindelte. Es ging ihr dreckig. Ein Handy klingelte. Melindas konnte es nicht sein. Die Melodie stimmte nicht. Wie klang noch einmal ihr Handy? Keine Ahnung. Arndt war stehengeblieben und suchte klopfend seine Taschen ab. Hosentaschen hinten und vorn, Manteltaschen außen und innen. Nichts. Es läutete weiter. Plötzlich ein Knacken im Schnee. Arndt bückte sich, rutschte dabei aus und fiel auf die Seite. Er grinste Melinda blöd an. Seine Hand glitt unkontrolliert in den Schnee, wühlte ziellos darin herum und hielt plötzlich ein hell leuchtendes, klingelndes Handy mit zerbrochener Scheibe in der Hand.
»Schitt!« Er wischte sich den Mund ab. Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis er abnahm. Arndt stellte auf laut, damit Melinda mithören konnte. Es war Sigi. Seine Stimme klang, als käme sie aus der Erde. War er in sein eigenes Loch gefallen und kam nicht mehr heraus? Benötigte er Hilfe? Hatte ihn das Skelett hinabgezogen?
»Müssen wir dich retten?« Melinda klang wie Micky Maus. Sie kicherte.
»Sollen wir die Polizei rufen?«, setzte Arndt hinzu. Er klang wie Balu der Bär. Sie gickerten und glucksten wie zwei Kinder und konnten sich kaum bremsen. Sigis aufgeräumter Ton brachte sie zur Raison.
»Warum nimmst du nicht ab, Arndt? Habe dich schon vor Stunden versucht zu erreichen! Habe Klamottenreste gefunden. Steckten die Kundenkarten einer Videothek und einer Wäscherei drin. Auf beiden steht Stella Blume. Dachte, das könnte dich interessieren. Ich mache für heute Schluss, bei Sonnenaufgang geht's weiter. Brauche mehr Leute und Material. Habe eine Plane übers Loch gelegt und Sperrband gezogen. Wir müssen das hier größer angehen. Familie Abel weiß Bescheid. Die Armen werden heute Nacht kein Auge zutun. Bis dann. Ciao!«
Arndt war kurz davor, das Handy zurück auf den Boden zu schmeißen und noch einmal draufzutreten. Melinda hielt ihn davon ab.
»Hast du nich mitgekriecht, ich meine, hast du nicht sugehört, was Sigi gesagt hat ...?« Die vielen S-Laute bereiteten ihr Probleme. Sie bekam beim Sprechen kaum noch die Zähne auseinander.
»Sigi hat Stella gefunen ...«
Arndt verstand nicht. Er war tatsächlich in einem noch schlimmeren Zustand als Melinda. Egal. Morgen war ein neuer Tag. Sie hatte die Informationen, die sie brauchte. Sie verabschiedete sich von Arndt und schob ihr Rad in die Obere Neustadt. An der Ecke drehte sie sich noch einmal um. Arndt winkte ihr und setzte sich dann langsam in Bewegung, wobei er sich bei jedem Schritt an einer Hauswand absicherte. Er würde heile zu Hause ankommen. Seine Wohnung lag nur zwei Straßen entfernt.
Melinda konnte froh sein, wenn sie unversehrt ihr Gartenhaus erreichte, sich irgendwie auf die Eckbank robbte und schnell in den Schlaf fand. Dennoch hätte sie gern ihr Notizbuch genommen und aufgeschrieben, was sie über den Tod von Iris Brandt und Stella Blume herausgefunden hatte. Zwei Frauen waren gestorben. Vermutlich durch die Hand von Richard Harms. Ihn zu finden war jetzt Aufgabe der Experten aus Hannover oder anderer superschlauer Cops. Melinda war mit sich im Reinen. Ihre Geschichte machte Sinn. Das allein zählte. Punkt und aus. Sie schlingerte über den dunklen Parkplatz. Wieder glitt ihr der Fahrradlenker aus der Hand, das Rad fiel um und sie stolperte ungelenk darüber. Zum Aufstehen war sie eigentlich zu müde. Die Übelkeit wurde plötzlich übermächtig. Sie lehnte sich zur Seite und übergab sich. Danach ging es ihr besser und sie rappelte sich auf die Beine. Am Rande des Platzes parkte ein großer Wagen. Melinda beachtete ihn nicht weiter. Sie hatte genug damit zu tun, die Spur zu halten, auf dem Weg hinunter zu den Gärten nicht erneut zu stürzen und ihr Gartentor zu finden. Es war unversperrt. Wahrscheinlich hatte sie in der Eile vorhin vergessen, es zuzuschließen. Sie betrat den Garten, drückte das Tor hinter sich zu und blieb stehen.
»Zippo? Zippo altes Haus! Komm her, komm su Melinda ...!«
Nichts. Stille. Nur der Wind griff in die Büsche und Bäume. Schüttelte Schnee herunter, ließ vertrocknete Blätter rascheln.
»Zippo?« Ihr schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort. Wie hatte sie Zippo bei diesem Wetter draußen auf sie warten lassen können? Zwar gab es die schützenden Azaleenbüsche, unter die er so gerne kroch, doch überschätzte sie da nicht die Dicke eines Hundefells? Sie musste ihm eine Schutzhütte bauen. Das war das mindeste, was sie für ihn tun konnte. Eine Hütte mit dicken Holzwänden, einem wasserdichten Dach und einem dicken Schaffell.
»Sippo du Strolch ... Ich bin wieder da!« Zippo blieb verschwunden. Hatte er sich erneut in Abels Garten geschlichen? War Nicki zufällig vorbeigekommen und hatte sich seiner erbarmt? Weiter konnte sie nicht denken. Ihr Kopf war schwer wie Blei, die Beine weich wie Pudding. Sie fluchte innerlich, weil sie noch immer nicht die überflüssigen Schlösser abmontiert hatte und nun mit vier Schlüsseln gleichzeitig herumhantieren musste, was in ihrem Zustand einer Unmöglichkeit gleichkam. Sie hätte Arndts Angebot annehmen sollen. Zu zweit schaffte man mehr als allein, auch wenn beide sturzbetrunken waren. Das erste Schloss war offen. Der zweite Schlüssel steckte schon, als er unerwartet wieder herausglitt und der die ganze Schlüsselsammlung mit einem dumpfen Aufprall im Schnee verschwand. Melinda hätte heulen können. Sie ging auf die Knie und begann, den Schnee zu durchwühlen. Scheinbar an der falschen Stelle. Der Schlüssel blieb verschwunden. »Papa«, flüsterte sie leise und erschrak kurz über ihre eigenen Worte. »Hilf mir. Bitte. Nur ein einziges Mal!« Schmerzhaft überrollten sie die Geheimnisse, auf die sie in Eberts Archiv gestoßen war. Der Schuss. Die Höhle. Ihr Vater, irgendwo dort oben in den Wäldern. Sein Leichnam, verborgen an einem uralten Ort. Als ewiger Wandersmann durchstreifte sein Geist die winterlichen Nächte. Seine Stimme in Melindas Ohr. Er hat sie nicht vergessen. »Papa, hilf mir! Wo ist der verdammte Schlüssel? Wo ist Zippo?«
Jetzt kroch sie auf die andere Seite. Grub die Hände erneut in den Schnee. Tastete, wühlte, zunehmend verzweifelter. Die Bewegung hinter sich spürte sie eher, als dass sie sie hörte oder sah. Ihre Hand ertastete den Schlüsselbund. Sie drehte sich um. »Zippo!« Eine Hand schoss auf sie zu, drückte ihr mit Gewalt ein Tuch auf Nase und Mund. Ein scharfer Geruch schoss ihr in den Schädel. War das Benzin? Ammoniak? Spiritus? Sie schleuderte den Arm nach vorn. Der Schlüsselbund knallte auf etwas Hartes. Ein Aufschrei. Der Druck auf ihr Gesicht wurde stärker. Melinda spürte wie sie zur Seite sackte, wie ihr Kopf aufschlug. Kein Widerstand. Kein Schmerz. Es gab für sie nichts mehr. Nur noch Schwärze, unendliche Tiefe, finsterste Nacht.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt