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Der Schnee lag hüfthoch, hier kam er nicht weiter. Arndt ließ den Wagen in den Graben rutschen, stellte den Motor aus und kurbelte das Fenster runter. Dann wählte er Christiansens Nummer, um Verstärkung anzufordern. Seine Chefin klang wütend: »Nochmal Holler, das ist nicht mehr Ihr Fall! Bewegen Sie Ihren hübschen Hintern zurück an den Schreibtisch!« Er blickte in den Himmel, biss die Zähne zusammen und sog kalte Luft durch die Nase. »Wenn Sie ein Blutbad verhindern wollen, Christiansen, dann tun Sie, was ich sage!« Genervtes Schnaufen am anderen Ende der Leitung. Das Anratschen eines Feuerzeugs. Ausgepusteter Rauch. Dann war die Leitung unterbrochen.

Als Arndt das Handy zurück in den Mantel schob, war er so schlau wie zuvor. Er wusste nicht, ob seine Bitte erhört werden würde. Ihm blieb nur, sich selbst auf den Weg zu machen. Er kroch die steile Böschung zur Linken hinauf und arbeitete sich durch eine Anpflanzung junger Birken. Schnee rieselte ihm in den Nacken. Er kam an einen verbogenen Wildtierzaun. Hier ging es nicht weiter und er musste sich nach rechts wenden. Eine von Bäumen umstandene Schutzhütte tauchte auf. Der Schnee davor war platt getreten. Er schien den richtigen Weg gewählt zu haben. Die Gerippe zweier eng beieinander stehender Tannen waren so ineinander verflochten, dass sie das Abbild eines Hirschgeweihs bildeten. Arndt nahm das als gutes Omen. Er wusste, dass sich Dresslers Jagdhütte auf einer Anhöhe oberhalb des Stausees befand. Arndt hatte sich ihre Lage kurz auf dem Handy angesehen und versucht, sie sich zu merken. Drei Forstwege führten hinauf. Trotz des Schnees musste er sich verdammt dumm anstellen, eine dermaßen markante Kreuzung zu verpassen. Arndt lauschte in die Einsamkeit hinaus. Wind. Knackende Äste. Das sanfte Schweben der Schneeflocken. Sonst nichts. Er ging weiter. Durch eine Senke, in der ihm der Schnee plötzlich bis zum Bauch reichte, über vermodernde Baumstämme und durch ausladende Brombeerranken, deren spitze Stacheln ihm in die Beine stachen. An einer Gruppe überfrorener Granitfelsen blieb er stehen und streckte die Nase in die Luft. Es roch nach Feuer. Nicht jedoch nach Holzfeuer, sondern nach verschmortem Gummi und brennendem Plastik. Arndt sah nach oben. Dunkle Rauchschwaden zogen über den Himmel. Er spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog, wie sein Körper sich gleichzeitig bereit machte, letzte Kraftreserven freizusetzen. Arndt zog die Pistole und entsicherte sie. Schritt für Schritt tastete er sich den Abhang hinunter, immer darauf bedacht, jederzeit hinter einem Kiefernstamm in Deckung gehen zu können. Als der Moment gekommen war, in dem er seine Beine und Füße vor Kälte kaum noch spürte, tauchten zwischen den Bäumen die dunklen Umrisse eines Holzhauses auf. Arndt stoppte und schob sich hinter den nächsten Baum. Da vorn war jemand. Ein Mann schlich in Richtung des Hauses. Ihm folgte ein zweiter, dann ein dritter. Arndt sah einen Revolver, ein Gewehr, Messer. Einer der Männer zeigte zum Haus, dann nach rechts und links, woraufhin die zwei anderen begannen, mit gezückten Waffen um das Haus zu patrouillieren. Arndt hörte den einen Rotz hochziehen, den anderen etwas Unverständliches murmeln. Als die Männer um die Hausecken verschwunden waren, verließ er sein Versteck und näherte sich vorsichtig einem angebauten Schuppen, in dem er eine schief in den Angeln hängende Tür entdeckte. Ob es von hier aus eine Verbindung ins Innere der Hütte gab? Einen Versuch war es wert. Nachdem er den Schnee mit dem Fuß zur Seite geschoben hatte, zog Arndt die Tür auf. Sie quietschte leise und im Inneren des Schuppens fiel ein Gegenstand polternd zu Boden. Nein, hier ging es nicht weiter. Arndt erblickte einen Holzstapel, mehrere Metalleimer, eine Motorsäge, eine Erdhacke und eine Schaufel. Eine weitere Tür, die ins Innere der Hütte führte, gab es nicht.
Wo war Melinda? Hatte sie sich ins Haus flüchten können? Lief sie irgendwo hier draußen herum und wartete auf Hilfe? Arndt hätte gern nach ihr gerufen, doch das verbot sich von selbst. Die Geräusche, welche das Öffnen des Schuppens verursacht hatte, reichten vollauf. Erneut hörte er das Hochziehen, dann ein Ausspucken. Schlecht für Rotzi, gut für Arndt. Er griff nach einem der Metalleimer und schleuderte ihn so weit wie möglich in den Wald, wo er scheppernd gegen einen Stamm knallte und in den Schnee fiel. Der älteste Trick der Menschheit. An der Hausecke tauchte Rotzi auf. Olivfarbener Parka, braune Cordhose, Lederstiefel, Vollbart und grimmiger Blick. Arndt nahm er gar nicht wahr, sondern machte sich sofort daran, in den Wald zu stapfen und nach dem Ursprung des Gescheppers zu suchen. »Na Fräulein, so allein im Wald ist nicht schön, oder! Ist gar nicht schön!« Arndt blieb viel Zeit zum Zielen. Ein Schuss in den rechten, dann ein Schuss in den linken Oberschenkel. Rotzi knickte zur Seite und begann herzzerreißend zu jammern. Laut genug, um seine Kumpane anzulocken. Arndt brauchte nicht lange zu warten, als sie auch schon um die Ecke stürmten und dem Gejammer ihres Kollegen zwischen die Kiefernstämme folgten. Sich rückwärts tastend, zog Arndt sich vom Ort des Geschehens zurück, bis die drei Männer außer Sicht waren. Er wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie ihm auf den Fersen waren. An einem mit Holzläden verschlossenen Fenster blieb er stehen und spitzte die Ohren. Waren das Schritte? Schritte auf knarrenden Holzdielen? Leise entriegelte er die Läden, klappte sie zur Seite und schaute ins Innere der Hütte. Er sah einen massiven Holzschrank, einen Wandspiegel, eine offenstehende Tür, hinter der sich offenbar ein Bad befand. Keine Melinda. Jetzt hörte er die Männer wieder. Rotzi jammerte: »Ihr könnt mich hier doch nicht ...! Wartet!« Offenbar hatten die zwei Übriggebliebenen die Verfolgung aufgenommen. Arndt musste sich beeilen. Wo war die Eingangstür? Hastig klappte er die Läden wieder zu und lief weiter. Als er um die nächste Hausecke bog, war er seinem Ziel bereits sehr nah. Ein Gewehrschuss knallte durch die Winterluft. Gleich darauf ein weiterer. Arndt benötigte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass jemand auf ihn schoss. Und zwar nicht aus Richtung seiner Verfolger, sondern aus Richtung des eingeschlagenen Fensterchens in der Hüttentür. Der Lauf eines Jagdgewehrs zielte direkt auf seine Brust. Dahinter erblickte er Melindas grün leuchtende Augen. Er spürte Erleichterung. Gleichzeitig schlug ihm das Herz bis zum Hals.
»Melinda! Verdammt, ich bin's! Arndt! Lass mich rein!« Er fummelte an seiner Wollmütze herum, von der der Schnee rieselte und klopfte seinen Mantel ab. Sah er so aus wie er sich fühlte, vereist und verlottert? Erkannte Melinda ihn deshalb nicht? Nein, es war anders. Ihre Stimme verriet sie. Lallend, überdreht. Sätze wie Konfetti. Vermutlich hatte sie eine ganze Handvoll ihrer merkwürdigen Tabletten geschluckt, um das hier heil zu überstehen oder im schlimmsten Fall schmerzlos zu sterben. Arndt kannte Melinda inzwischen gut genug. Er sah, wie Melinda das Gewehr aus dem Fensterchen zog. Gleichzeitig bemerkte er das aufgeschossene Schloss. Dann öffnete sich die Tür. Melinda zog ihn hinein, schmiss die Tür wieder zu. Sie nahm ihn in den Arm, küsste ihm flüchtig auf Wange, Stirn und Nase. Sie stank erbärmlich nach Schweiß, Schwefel, Benzin und verbranntem Plastik, aber sie lebte und das machte ihn glücklich.
Hastig griff er sich den massiven Holztisch und schob ihn gegen die Tür. Melinda schob das Gewehr wieder in die Luke. Arndt sah sich um. Offenbar hatte Melinda Zeit gehabt, ein ganzes Waffenarsenal zusammenzusuchen. Auf einer Sitzbank lagen drei Gewehre und zwei Jagdpistolen. Wenn ausreichend Munition im Hause war, dann würden sie reichen.
»Nimm das mit der Gravierung! Die anderen sind Scheiße!« Melinda schien den Überblick zu haben. Arndt griff sich das Gewehr, auf dessen Griff Dresslers Name und ein Datum eingraviert war. 24.12.1988. Da hatte aber jemand ein hübsches Geschenk zum Fest der Nächstenliebe bekommen! Es gab so vieles, was er Melinda fragen wollte, doch dafür blieb ihnen keine Zeit. Vor der Eingangstür brüllten die Männer und forderten Rache für ihren angeschossenen Kameraden. Schüsse knallten, Holz splitterte, Glas ging zu Bruch. Melinda drückte auf den Abzug. Draußen schrie jemand auf. Dann noch ein Knall und Melinda griff sich an die Schulter, taumelte nach hinten und stürzte schließlich zu Boden. Ein weiteres Projektil schlug durch die Holztür und traf Arndt an der Hüfte. Auf allen Vieren kroch er zu Melinda, um nachzusehen, wie es ihr ging. Sie war bei Bewusstsein und lächelte ihn mit schiefem Grinsen an. Sie war definitiv high. Arndt wünschte, das auch von sich sagen zu können. »Hast du noch ein paar von den Pillen?« Melinda zeigte auf ihren Magen. »Alle da drin.«
Jemand sprang von außen gegen die Tür. Einmal. Dann noch einmal. Und wieder. Jedes Mal rutschte der schwere Eichentisch einen weiteren Zentimeter zurück in den Raum. Arndt griff um Melindas Hüfte und zog sie so vorsichtig es ging in den hinteren Teil der Hütte, raus aus dem Schussfeld.
»Melinda, in den Schrank!«
Sie glotzte ihn blöde an.
»Der Kleiderschrank? Du Schlingel!«

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt