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Bereits um sieben Uhr früh schob sich der diensthabende Arzt mit seinem Tross, bestehend aus zwei Pflegerinnen, einem Pflegeschüler und der Stationsleitung, in Melindas Zimmer. Vor einer halben Stunde war Schwester Gerda bei ihr gewesen und hatte sie mit Getränken und einem neuen Tropf versorgt. Melinda meinte noch immer die Kälte der Bettpfanne an ihrem Hinterteil zu spüren.

Vor dem Fenster begann es zu dämmern. Ein Vogel wagte ein erstes Trillern. Der Arzt beugte sich zu ihr herunter. Melindas Blick verschwamm. Sie kniff die Augen zusammen bis sie schmerzten um das Namensschild am Kittel des Arztes lesen zu können. Dr. Andreas Holm. Oberarzt. Der Duft eines einfachen Aftershaves stieg ihr in die Nase, dazu der nach Butter, Brötchen, Kirschmarmelade und Desinfektionsmittel. Ihr Analysetalent überraschte sie selbst.
Sie musste schlimm aussehen! Ihre Hand fuhr zu ihrem Haar, tastete es ab. Vorne, hinten, an den Seiten. Wo zum Teufel waren ihre Klemmen? Dreizehn an der Zahl. Jede Haarklemme für einen Toten, über den sie sich während ihrer bisherigen Karriere hatte beugen müssen. Stellas Haarklemme war grün. Grün wie der Kiefernwald. Sie glänzte noch neu.

Melinda verstand nur wenig von dem, was der Arzt von sich gab. Er schien gut informiert über die Gefangenschaft in der Waldhütte, Melindas Probleme in der Zeit danach, dem Aufenthalt in der Nordseeklinik. Worte und Begriffe flogen durch den Raum, schwebten unter der Decke, regneten herab auf ihre gestärkte Bettdecke. Syndrom. Trauma. Psychopharmaka. Überdosis. Ein paar Tage zur Beobachtung. Entzug. Glück gehabt. Entlassung zeitnah.
Eine junge Pflegerin mit rundem Gesicht kicherte, eine andere putzte sich die Nase. Der Arzt verzog den Mund zu einem Grinsen, zeigte weiße, ebenmäßige Zähne.
„Wird alles, Frau Sieben! Stehen dem Land bald wieder zur Verfügung!"
Dr. Holm und sein Tross lösten sich von ihrem Bett, wie Schattenwesen, die ihren geheimen Auftrag erfüllt haben. Schwester Gerda drückte noch ein paar Knöpfe, schraubte am Tropf und verließ dann ebenfalls das Zimmer.
Stille. Nur die Maschinen fiepten leise vor sich hin.
Entlassung zeitnah. Das klang vielversprechend.

Mit lang ausgestrecktem Arm griff Melinda nach der Nachttischschublade und zog sie auf. Nichts war abhandengekommen. Dort lagen ihre Haarklemmen, die Armbanduhr, das Portemonnaie, ihre Holzperlenkette, und ein vertrockneter Tannenzweig, der dort nicht hingehörte. Nachdenklich drehte sie ihn zwischen den Fingern. Wie rauh sich seine Oberfläche anfühlte, beinahe scharfkantig. Sie hielt ihn ans Ohr, weil sie glaubte ein Flüstern gehört zu haben. Doch da war nichts.

Melinda erinnerte sich an einen Traum der vergangenen Nacht. Wildes Zeug. Die Hütte im Wald war darin vorgekommen, ihre Mutter hatte ebenfalls eine Rolle gespielt, mit erhobenem Zeigefinger hatte sie ihr gedroht, auf einem riesigen, dummes Zeug quasselnden Hirsch reitend. Das Tier sprach eine Sprache, die Melinda nicht kannte. Mit einem Mal hatte sich unter ihr mit einem ohrenbetäubenden Knirschen der bemooste Waldboden aufgetan, beinahe wäre sie in die Erdspalte gefallen, doch plötzlich stand Arndt vor ihr und griff nach ihrer Hand. Wirklich verstanden hatte sie die nächtlichen Bilder nicht, doch sie glaubte an ihre Bedeutung, welche auch immer das sein mochte, glaubte an ihre Kraft, schließlich waren es ja ihre Bilder. Der Wald, er rief nach ihr. Der Wandersmann, er wollte, dass sie ihn suchte, ihn fand. Wer auch immer er war, was auch immer er von ihr verlangte, sie musste ihn finden.
Melinda schielte zum verschlossenen Wandschrank hinüber. Dort musste ihr Mantel hängen, in dem sich Sophies Fotos vom Wandersmann, die Daumenkinobilder, und die ominöse, dreifach verdrehte Botschaft befanden, welche sie noch immer nicht ganz verstand. Sie hoffte, dass niemand vom Pflegepersonal die taschen geleert, den Inhalt vielleicht sogar weggeschmissen hatte.

Ein Blick aufs Handy. Jan Dressler hatte zurückgeschrieben.
Hoffe auf baldige Genesung. Freue mich auf Kaffee im Grünen. Grinsendes Wildschwein.
Konnte das sein? War Jan Dressler im Moment tatsächlich ihr einziger Lichtblick im trüben Grauweiß dieses trostlosen Krankenzimmers? Sie kannten sich doch kaum!

Doch ehrlich, das war ihr egal.

Sie war eine Verpflichtung eingegangen, sie hatte Jan einen Garten versprochen. Einen Garten mit Kaffee und Kuchen. Im Herbst. Bei fallenden Blättern und eiskalten Winden. Sie sah es vor sich: Verwehte Schlagsahne auf den Kuchentellern, der Kunststoffdecke mit Blumenmustern, auf Jan Dresslers Nasenspitze. Melinda würde sich seinem Gesicht nähern, behutsam, langsam zunächst. Du hast da was! Sie würde die Zunge ausfahren und mit der Spitze zart die Sahneflocken von seiner Haut schlecken.
Nun war es zu spät, sie kam nicht mehr darum herum, sie musste Elke Schrader anrufen und ihr mitteilen, dass sie sich entschieden hatte. Ja, sie wollte den Garten, möglichst sofort. Die aktuelle Situation erforderte es. Ein Rückzugsort, eine Oase, ein Kleinod des Biedermeiers. Raum zum Denken, zum Sackenlassen, zum Sichsortieren, zum Beine- und Seelebaumeln. Mit einem Mal wusste sie: heute bekam sie Besuch. Ihre Kollegen. Einer nach dem anderen. Und Dr. Rose, den sie noch nie gesehen hatte, von dem sie jedoch erstaunlicherweise genau wusste, wie er aussah. Er würde zu ihr kommen. Er würde keine guten Nachrichten mitbringen, doch vielleicht genau die Nachrichten, welche Melinda jetzt gut gebrauchen konnte.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt