Hermann Eberts Tagebuch umfasste über zweihundert dicht beschriebene Seiten. In einer Papiertasche auf der hinteren Umschlaginnenseite steckten mehrere zusammengefaltete Blätter, die sie zunächst nicht weiter beachtete. Auch wenn Melinda sich kaum zurückhalten konnte, die letzten Eintragungen zuerst zu lesen, so begann sie doch ganz am Anfang.
Ostpreußische Kokosmakronen
2 Eiweiß
140g Zucker
100g Kokosraspeln
Rumaroma
Vanillearoma
Zitronenschale
SalzStampfkartoffeln mit Buttermilch
1kg Kartoffeln
150g durchwachsener Speck
1 große Zwiebel
Buttermilch
Butter oder ButterschmalzEs folgten Rezepte für Beetenbartsch, gewickelte Gänsefüße, Schmandschinken und Sahnekielchen. Ebert hatte das Notizbuch offenbar in der Küchenschublade gefunden und es kurzerhand für seine Zwecke verwendet. Weitere Seiten enthielten detaillierte Einkaufslisten und Zahlenreihen, die Melinda für Lottozahlen hielt. Etwa in der Mitte des Buches begannen die Tagebuchaufzeichnungen, und das mit einem Paukenschlag.
24. März 1988
Mit Groener im Stadtwald oberhalb des Staudamms. Ein Wilddieb schießt seit Tagen wahllos Rehe und Wildschweine und lässt sie unangetastet verbluten. Hinweis kommt von zwei Touristen aus Norddeutschland. Verfolgung. Trennen uns unterhalb der Heidenhöhle, weil Täter außer Sicht. Wilde Hatz durchs Unterholz. Groener plötzlich nicht mehr zu sehen. Es dämmert schon. Schlechte Sicht. Oberhalb der Höhle plötzlich eine Bewegung. Ein Mann. In der Hand eine Waffe, auf dem Rücken ein Bündel. Glücksgefühle, weil Groener dieses Mal nicht den Sieg davonträgt. Ich verstecke mich hinter einem Baum, ziele und schieße. Der Mann sackt zusammen.
Will zu ihm eilen, höre aber Groener nach mir rufen. Sehe ihn unten am Hang einen Mann auf den Boden drücken und ihm Handschellen anlegen. Der Kerl gesteht noch vor Ort. Ich habe einen Unschuldigen erschossen! Zurück zum Revier. Übergebe mich ins Waschbecken.Melinda griff nach dem Kaffeebecher, doch er war leer. Ihr Mund fühlte sich an, als hätte sie Saharawind geatmet. Die Stimme des Wandersmanns wurde lauter. Sie klang, als beiße er sich durch eine trockene Baumkrone, die mitten in Melindas Kopf ihre Äste spreizte. Es war kaum auszuhalten, doch sie musste weiterlesen.
Nachts noch einmal im Stadtwald. Ruth denkt, ich habe noch einen Einsatz. Der Mann ist noch da. Er ist tot. Halsschuss. Ich hatte aufs Bein gezielt. Er trägt lange, bunte Gewänder, Ledersandalen, ein Fell um die Schultern, einen Rucksack mit wenigen Habseligkeiten. Nehme Ausweise und Pass an mich. Fühle mich schrecklich. Schwindel und Übelkeit. Übergebe mich wieder. Muss den Mann verschwinden lassen. Einzige Möglichkeit: die Höhle. Rolle ihn den Hang hinunter und lasse ihn über den Fels fallen. Höhleneingang zugewuchert und mit Stahlgitter verschlossen. Ein gezielter Schuss, das Schloss ist offen. Hoffe, dass niemand es mitbekommen hat. Ziehe den Mann so weit es mir möglich ist, in die Höhle, vielleicht 100 oder 200 Meter. Ein unheimlicher Ort. Ich weiß was man sich erzählt. Heidnische Bräuche. Zauber. Magie. Alles Kokolores! Bedecke den Körper so gut es geht mit Geröll. Verlasse die Höhle im Laufschritt. Erleichterung.
Das also hatte den alten Ebert so bedrückt und ihn am Ende in den Selbstmord getrieben. Sie überflog die nächsten Seiten und las nur dann genauer, wenn ihr ein interessantes Stichwort entgegensprang. Den Eintragungen entnahm sie, dass Eberts Schuldgefühle zunahmen und sich Ende der 90er-Jahre schließlich auch körperlich bemerkbar machten. Er schlief schlecht. Es quälten ihn Albträume, aus denen er schweißgebadet erwachte. Er begann, unkontrolliert Tabletten zu nehmen, mit zunehmender Tendenz am Beginn der 2000er-Jahre. Er litt unter Aussetzern, ließ sich alle zwei Wochen krankschreiben, war unfähig, die ihm aufgetragenen Arbeiten zu erledigen und riskierte schließlich seinen Posten als Leiter des Präsidiums. Als er begann Stimmen zu hören und das Gefühl bei ihm wuchs, jemand klammere sich an seinen Rücken und flüstere ihm rätselhafte Botschaften ins Ohr, da holte er sich Hilfe.
November 2002
Schlafe nicht mehr. Das ständige Wispern und Knacken im Kopf bringt mich um den Verstand. Er verfolgt mich. Er bedrängt mich. Was will er von mir? Mein Sündenfall treibt mich in den Wahnsinn. Wem habe ich dort oben in den Wäldern tatsächlich das Leben geraubt? Bezweifle allmählich, dass es sich um einen einfachen Wanderer handelte. Rufe Dr. Rose an und bitte ihn um einen Termin. Kann nicht länger schweigen.So ging das seitenlang weiter. Ebert beschrieb die Sitzungen bei Dr. Rose in aller Ausführlichkeit, protokollierte die Einnahme seiner Medikamente und begann Anfang 2004 mit einem Projekt, über dessen Beginn er sich euphorisch zeigte.
6. Januar, Heilige Drei Könige, 2004
Habe endlich begonnen, Dr. Roses Rat zu befolgen. Plane ein Gemälde. Öl. Groß. Waldmotiv. Der Wandersmann muss auch vorkommen. Die Stimme in meinem Kopf macht mir Vorgaben, unterbreitet Vorschläge. Magische Momente. Scheine ganz in meinem Kunstwerk aufzugehen. Bemerkenswert. Habe früher nie etwas mit Kunst zu tun gehabt.11. Februar 2004
Richte mir im untersten Archivgeschoss eine kleine Forschungsbibliothek ein. Dr. Rose sagt, dass die Auseinandersetzung mit dem Dämon und alles was ihn betrifft, den Zauber abmildert und sogar zum Verschwinden bringen kann. Verbringe viel Zeit mit Lesen, Schreiben, Forschen, Sammeln. Sehe Ruth kaum noch. Sie scheint mich nicht zu vermissen. Habe eine Maus im Schreibtisch gefangen. Wundere mich über mich selbst. Empfinde kein Mitleid.Melinda blickt auf ihr Handy und kann es kaum fassen, dass sie bereits zwei Stunden hier sitzt. Ihr Herz schlägt Purzelbäume, die Haarspitzen kribbeln. Ihr ist, als hätte sie sich in den vergangenen Monaten mit bloßen Händen ins Erdreich gegraben und nun, fünfhundert Meter vom Sonnenlicht entfernt, den Schatz gefunden. Sie wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie blätterte zum Ende des Tagebuchs und las den letzten Eintrag.
7. April 2016
Mit König telefoniert. Er berichtet, dass die Soko »Freisler« sich selbst gesprengt hat. Zwei Kollegen verschwunden. Vermutlich entführt, Verbleib unbekannt. Er nennt die Namen. Arndt Holler und Melinda Sieben. Der Wandersmann hebt zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll an, als tobe ein Hurrikan durch den Stadtwald. Es zerreißt mir den Kopf. Nicht auch das noch! Es ist zu viel! Erst der Vater dann die Tochter. Ich darf nicht leben.Die Seiten waren fleckig, als hätte jemand Bratensoße darauf verspritzt. Melinda hielt das Buch näher an die Lampe. Es waren Blutstropfen. Vermutlich stammten sie aus Eberts Nase. Erst der Vater, dann die Tochter. Was meinte Ebert damit? Melinda sah, wie ihre Hände zu zittern begannen. Ihr brach der Schweiß aus. Mit bebenden Fingern zog sie den Stapel gefalteter Papiere aus dem hinteren Teil des Buches. Ein Blatt mit selbstgezeichneten Runen kam zum Vorschein, eine abgenutzte Wanderkarte, ein Brief, dessen Handschrift Melinda merkwürdig bekannt vorkam. Die letzten Dokumente waren kein Papier im herkömmlichen Sinn. Es waren ein alter Führerschein, ein Personalausweis und ein Reisepass. Melinda blätterte sie nacheinander auf und schrie spitz auf. Was sie sah, versetzte ihr einen Schlag und drohte ihr endgültig das Gleichgewicht zu rauben. Von ausgeblichenen Fotos sah ihr Vater, Onno Sieben, mitten in ihr wundes Herz. Der Wandersmann triumphierte. Sein Geheul ließ die Kaffeetasse bersten.
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Pilzgericht (Krimi)
Misterio / SuspensoDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...