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Nachdem sie ein paar Zwiebäcke in Tee getunkt und gegessen hatte, wollte sie sich um das Fahrrad kümmern. Die Reifen waren zwar uralt und rissig, doch vielleicht hielten sie noch eine Weile. Wichtiger war, dass sie die Schläuche flickte und die Bremsen nachstellte. Im Keller fand sie bestimmt das passende Werkzeug. Sie griff nach dem Ring mit den Schlüsseln, schnappte sich die Taschenlampe aus dem Flurschrank und verließ mit Zippo die Wohnung.

Arndt hatte sich auf sein Bett geschmissen und versuchte vergeblich sich auf seinen Krimi zu konzentrieren. Zwar las er Zeile für Zeile, jedoch verstand er deren Sinn nicht. Weshalb lagen seine und Melindas Meinungen so weit auseinander wenn es um ihren Gesundheitszustand und ihre Fähigkeiten als Ermittler ging? War Melinda zu blauäugig? War er zu pessimistisch, oder einfach nur unsicher? Er brauchte mehr Zeit, um wieder mit sich ins Reine zu kommen, sich an sein neues Ich zu gewöhnen. Seine Kollegin war da offenbar schon weiter. Wer konnte schon sagen, ob sie weiterhin zusammenarbeiten würden. Vielleicht würden sie schon bald getrennte Wege gehen. Bei Melinda wusste man nie welche Idee sie als nächstes ausbrütete.

Auch wenn es Melinda, anders als ihrem Kollegen, keine Probleme mehr bereitete dunkle Räume hinab zu steigen, so war sie dennoch froh, Zippo an ihrer Seite zu haben. Das Licht der Taschenlampe huschte gespenstisch über die ausgetretenen Stufen. Melinda spürte die feuchte Kälte. Auf halber Treppe blieb sie stehen und horchte hinab in die Dunkelheit. Da waren sie wieder. Die Kinderstimmen. War das ein Lachen? Ein Wimmern? Es waren Jungen, keine Mädchen. Wenn sie ehrlich war, war nicht genau das der Grund weshalb sie hier hinunter wollte? Ja, sie brauchte auch das Werkzeug, aber eigentlich interessierte sie sich für etwas ganz anderes.

Schraders Keller befand sich hinter der Tür rechts von ihr. Links war eine Stahltür. Dahinter war mit Sicherheit die Heizungsanlage. Melinda ging den schmalen Gang weiter. Ganz hinten gab es noch zwei Türen. Eine führte in den Weinkeller, die andere in einen Wäschekeller voller Leinen und einer alten Waschmaschine in der Ecke. Im Keller eines Hausmeisters sollte es Werkzeug geben, dachte sie und richtete das Licht auf die vier Schlüssel in ihrer Hand. Noch immer vernahm sie diese Stimmen. Versuchsweise presste sie die Handflächen auf ihre Ohren. Die Stimmen wurden leiser. Sie war also nicht verrückt. Vier Schlüssel, vier Schlösser. Die Farben passten. Jetzt würde sich zeigen ob sie sich irgendeinen Schwachsinn zusammengereimt oder ob der Zufall ihr tatsächlich ein Geschenk gemacht hatte. Nacheinander probierte sie die Schlüssel aus. Erst öffnete sich das kanariengelbe, dann das maigrüne Schloss. Das kaminrote klemmte und ließ sich erst nach einigem Hinundherruckeln öffnen. Das meerblaue schließlich glitt auf als wäre es gerade erst geölt worden. Melinda zog die Schlösser heraus und steckte sie zusammen mit den Schlüsseln in ihre Jackentasche. Dann schob sie die vier Riegel zur Seite und schob die Tür auf. Oben klingelte ein Telefon. Wahrscheinlich in der Wohnung. Hoffentlich hat Arndt sich wieder eingekriegt und geht dran, dachte Melinda. Kurz darauf hörte sie ihn die Treppe herunter kommen und sich am Kellereingang räuspern.

„Bullerjahn war dran. Er kommt heute Nachmittag zum Kaffeetrinken. Ich gehe zum Café am Markt, Torte kaufen!"

Mach das, dachte Melinda. Mach das! Und dann laut zu Arndt: „Für mich was mit Vollkorn!" Dabei fiel ihr ein, dass sie bis auf die Zwiebäcke noch gar nichts gegessen hatte. Allerdings, mit vollem Magen ließ sich auch schwieriger denken.

Arndt schien es wieder besser zu gehen. Gut dass Bullerjahn zu ihnen kam. Vielleicht konnte Arndt sich bei ihm ein bisschen was von der Seele reden. Unter Männern.

Die Tür quietschte entsetzlich, was Melinda fatal an die Gruselhörspiele ihrer Kindheit erinnerte. Sie betätigte den Lichtschalter links an der Wand und das Wunder wurde Wirklichkeit. Hier gab es Strom. Schwere Industrielampen leuchteten auf. Melinda traute ihren Augen nicht. Dieser Keller war groß. Sehr groß sogar. Etwa so groß wie Ischingers Höhle beim Kreisanzeiger. In der Mitte des Gewölbes stand eine massive Werkbank. Darauf lag eine unfertige Konstruktion aus Holz und Metall, Zahnrädern und Riemen. Schrader schien über jedes Werkzeug verfügt zu haben, das man käuflich erwerben konnte. Sie alle hatten ihre festen Plätze an eigens für sie angebrachten Wandhalterungen. Melinda schritt sie der Länge nach ab. Nach sechs Schritten blieb sie stehen. Sechs Meter Werkzeug. Beeindruckend! Hier würde sie finden was sie benötigte. Was enthielten die drei Stahlschränke? Sie waren verschlossen. Es gab sogar eine kleine Küchenzeile, eine Herdplatte. Daneben einen grob zusammengezimmerten Tisch und zwei Stühle. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt.

Und dann war da noch diese Truhe. Massive Bauart. Kunstvolle Bemalung. Augenscheinlich alt. Beeindruckendes Vorhängeschloss.

Melinda versuchte sie anzuheben. Sie war schwer. Sehr schwer.

Die Jungenstimmen waren jetzt lauter und deutlicher zu hören als zuvor. Sie klangen klagend. Als hätte man den Jungen etwas weggenommen. Als hätte man ihnen etwas weggenommen! Schrader, du alter Drecksack!

Diese Truhe musste sie haben. Dringend. Und zwar nicht hier unten, sondern oben in der Wohnung. Bullerjahn und Arndt mussten ihr beim Tragen helfen. Und beim Schlossknacken. Bevor sie den Keller verließ griff sie sich von der Wand, was sie für die Fahrradreparatur benötigte. Einen Satz Schraubenschlüssel, verschiedene Imbusschlüssel, Schraubenzieher. Das Flickset trug den Aufdruck „Zu verbrauchen bis 10/1986". Sie nahm es trotzdem mit und hoffte, dass der Klebstoff noch nicht eingetrocknet war.

In einem der Küchenschränke fand sie eine Schüssel, die Zippo als Trinknapf dienen konnte und füllte sie mit Wasser. Fehlte nur noch das Futter. Vielleicht sollte sie es drüben an der Tankstelle versuchen. Sie nahm Zippo an die Leine und lief durch den frisch gefallenen Schnee über die Straße, auf der die wenigen Autos heute sehr langsam entlang rollten. Die junge Frau hinter dem Tresen las in einer Illustrierten als Melinda sie ansprach und nach dem Hundefutter fragte. Auch wenn sie noch nie im Leben Tierfutter gekauft hatte, erschienen ihr die Preise astronomisch hoch. Zwölf Euro für so einen winzigen Sack Trockenfraß? Konnte das sein? Sie bezahlte und steckte das Restgeld in eine Seenot-Sammelbüchse neben den Süßigkeiten.

„Sie wohnen gleich gegenüber in dem gelben Holzhaus! Habe sie schon mal aus der Tür kommen sehen!"

Melinda zwang sich zu einem Lächeln. Die Kleine hatte eindeutig zu viel Langeweile. Kamen wahrscheinlich nicht so viele vorbei an einem verschneiten Sonntag wie diesem.

„Sind sie von der Polizei?"

Jetzt wurde sie Melinda doch zu neugierig.

„Nein, ich bin Testkäuferin und klappere zurzeit die Tankstellen der Region ab. Sie haben schon einmal nicht alles falsch gemacht! Drei von fünf Punkten."

Das Mädchen straffte sich, legte ihre Zeitung zur Seite und sah Melinda mit verunsicherter Miene nach.

„Und die zwei restlichen Punkte? Warum habe ich keine fünf Punkte ...?" Melinda hörte den Rest nicht mehr. Die Schiebetüren hatten sich bereits hinter ihr geschlossen. Die Kleine war hartnäckig. Würde mich nicht wundern wenn sie morgen vor der Tür steht und nachbohrt weshalb sie keine fünf Punkte bekommen hat, dachte Melinda.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt