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Um kurz vor acht schrieb Nadja ihm erneut. Ihre Botschaft war unmissverständlich.
Das war's, du Verpisser! Der General ist kurz vorm Explodieren! Ist es schlimm, dass ich ihm deinen echten Namen verraten habe? Versager!
Dreifacher Tränen-Smiley.

Sein Mund verzog sich zu einem freudlosen Lächeln. Wenn Nadja in Fahrt war, vergaß sie sogar ihren Hass auf Emojis. Dressler stand auf einem zugeschneiten Forstweg. In den Tiefen des Handschubfachs hatte er eine zerknitterte Zigarettenpackung gefunden. Auch wenn er sich das Rauchen vor drei Jahren abgewöhnt hatte, stand er nun hier im zugeschneiten Oberharz, starrte in die winterliche Nacht und blies weißen Rauch in die Dunkelheit.
Eine knappe Stunde hatte er gebraucht, um den Jeep aus dem Schnee zu befreien. Im Kofferraum lag ein Klappspaten, mit dem er den Wagen freibuddelte. Äste und Zweige unter den Reifen dienten ihm als Anfahrhilfe. Meter für Meter arbeitete er sich auf diese Weise bis zum nächsten Forstweg. Von hier aus konnte er unauffällig zurück zur Straße und von dort nach Hause fahren. Noch immer spürte er die Platzwunde an seiner Stirn pulsieren. Den Verbandskoffer hatte er zunächst nicht finden können, er war bei der Schleudertour unter den Fahrersitz gerutscht. Jetzt trug Dressler einen improvisierten Kopfverband, darüber eine Wollmütze.
Er stieg ein und startete den Wagen. Während er langsam den Weg in Richtung Straße fuhr, dachte er an Nadjas grüne Augen, ihr elegantes Kleid, ihre überzeugenden Worte. Bombensicherer Plan. Spätestens bei diesen Worten hätte er hellhörig werden müssen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte Nadja ihn bereits um den Finger gewickelt, schwelgte er bereits in Träumen von Geld, Reichtum und niemals versiegender Glückseligkeit. Glück im Spiel, Geld in der Liebe. Es hätte so schön sein können. Die Kollision seines Kopfes mit dem Lenkrad hatte ihn wachgerüttelt. Zumindest vorübergehend. Er kannte dieses unkontrollierte An- und Abschwellen seiner Gier, die in heiklen Situationen schnell außer Kontrolle geriet. In diesen Minuten war das anders. Schon lange hatte er nicht mehr so in sich selbst geruht. Er hatte überlebt, sein Wagen war intakt. Sollte Nadja ihm doch den General auf den Hals hetzen. Er würde schon eine Lösung finden.

Je näher Jan Dressler dem Forsthaus kam, desto mehr wuchsen seine Zweifel, und als er den Wagen in der Einfahrt parkte, wurde ihm klar, dass er es endgültig versaut hatte. Es war völlig egal, ob er den heutigen Abend im Casino, zu Hause oder sonst wo verbrachte, der General würde sein Geld einfordern und jemanden schicken, der es eintrieb. Todsicher. Das war eine ganz andere Liga als freundlich formulierte Mahnbriefe eines Möbelhauses oder ein vertrauliches Gespräch mit Herrn Hinrichs, seinem Finanzberater. Dressler hatte sich mit dem Teufel eingelassen und dieser war drauf und dran, ihm seine glühende Forke in den Leib zu rammen.

Dressler konnte sich nicht daran erinnern, dass das Einfahrtstor jemals geschlossen gewesen war. Jetzt stieß er es mit zwei kräftigen Tritten zu. Die Angeln quietschten ohrenzerreißend. Obwohl er wusste, dass er sich lächerlich machte, überprüfte er die Funktion der Schließung und ließ zum allerersten Mal das verrostete Vorhängeschloss einrasten. Sein Zaun war hüfthoch. Jeder, der hier einzudringen wollte, konnte ihn aus dem Stand überwinden.
Schon von weitem hörte er Silva von innen an der Tür kratzen. Er freute sich auf ihre Gesellschaft. Gleichzeitig war er froh, ihr das ständige Gejaule und Gebelle abgewöhnt zu haben, wenn sie allein bleiben musste. Dressler öffnete die Tür und erwartete, dass der Hund sich freuen und ihm mit wedelnder Rute um die Beine streichen würde, doch Silva blieb auf Abstand.
»Na mein Mädchen, was ist los? Bist du böse, weil ich dich so lange allein gelassen habe?«
Dressler drückte die Tür ins Schloss, drehte den Schlüssel von innen zweimal herum, zog Mantel und Schuhe aus, schlüpfte in die Haussandalen und setzte gerade den Fuß auf die Treppe, um hinauf ins Badezimmer zu gehen, als er den Lufthauch im Gesicht spürte. Es war kalt im Erdgeschoss. Hatte er die Kellertür offenstehen lassen oder vergessen, ein Fenster zu schließen? Er ging in die Küche und schaltete das Licht an. Nichts. Auch im Gäste-WC, nichts. Die Kellertür war fest verschlossen. Vorsichtig schlich er durch den Flur. Silva war bei ihm. Vor der verglasten Wohnzimmertür blieb er stehen und lauschte. Nichts. Doch die Kälte hatte zugenommen. Behutsam drückte er die Klinke herunter, schob die Tür auf und schaltete das Licht an.
Die Glassplitter entdeckte er zuerst. Sie bedeckten den weinroten Teppich vor dem Fenster und ließen ihn wie einen Weihnachtshimmel funkeln. Silva begann zu knurren. Dressler ging einen Schritt ins Wohnzimmer, dann noch einen. Er spürte, wie ihm die Knie zitterten. Er hätte die alten Fenster längst durch neue ersetzen müssen. Doppelglas statt Einfachglas. Das Loch in der Panoramascheibe war groß genug, um einem ausgewachsenen Menschen den Einstieg zu ermöglichen. Dressler blickte hinaus in den finsteren Garten wie in eine andere Welt. Dort stand der Hauklotz, das gestapelte Brennholz, die Feuerstelle, dahinter Himbeer- und Stachelbeerbüsche. Kahl, trocken, im Eis schlummernd. Der Wind trieb Schneeflocken herein, die auf Mutters Sessel schwebten und dunkle Flecken hinterließen. Dressler sah sich um. Außer ihm und Silva war niemand hier, da war Dressler sicher. Wäre es anders gewesen, dann hätte der Hund schon viel früher Alarm geschlagen. Er besah sich die messerscharfen Ränder der zerbrochenen Fensterscheibe und atmete auf. Dort konnte niemand eingestiegen sein. Und wenn doch, dann hätte er riskiert, sich Kopf, Arme und Beine zu amputieren.
Sein Blick fiel auf den Stubenschrank und Mutters Vitrine. Die Scheiben waren zersplittert. Zwei der wertvollen Sammeltassen mitsamt den Untertellern waren herausgefallen und lagen zertrümmert auf dem Fußboden, die restlichen fand er kreuz und quer, manche mit abgebrochenen Henkeln, im Schrank verteilt, als hätte jemand Kegeln mit ihnen gespielt. Dressler blickte zum Fenster und durchmaß dessen Entfernung zur Vitrine. Ungefähr zwei Meter. Etwas musste mit hoher Geschwindigkeit durch die Scheibe geflogen sein und den Glasschrank zerstört haben. Vorsichtig zog er die entglasten Schranktüren auf und besah sich das Debakel. Wie lange hatte Mutter für diese Tassen gespart! Wie oft war sie, auf der Suche nach den schönsten Stücken, über die Flohmärkte gezogen, ihren quengelnden Sohn im Schlepptau! Ein Sammlerinnenleben lag in Trümmern. Dressler ballte die Fäuste.
Dann fand er den Pflasterstein. Rau, kalt und grau, wie ein fremdes Objekt aus dem All, lag er zwischen den Scherben.
Dresslers Hand fuhr über die Stirn, knetete Mund und Wangen. Der General hatte schneller reagiert, als erwartet. Flink lief Dressler in die Küche, holte einen Gefrierbeutel, stülpte ihn über seine Hand und angelte den Stein aus dem Schrank. Mit dem verschlossenen Beutel ging er in die Küche, öffnete sich ein Bier und setzte sich an den Tisch. Sein erster Gedanke war, die Polizei zu rufen. Sein zweiter Gedanke schalt ihn einen Narren. Nein, weiteren Polizeibesuch konnte er weiß Gott nicht gebrauchen. Melindas Verhör hatte ihm genug graue Haare beschert.
Er nahm einen Schluck aus der Flasche und drehte den Stein hin und her. Jemand hatte etwas mit weißer Farbe darauf gemalt. Das Motiv war verlaufen und grob gepinselt, doch er erkannte es sofort. Es war ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Viel zu hastig trank Dressler die Flasche leer. Er verschluckte sich, musste husten. Etwas später stieg er in den Keller, holte Pappe, Holzplatten und Allzweckband und dichtete das Loch im Wohnzimmerfenster ab. Zurück in der Küche schrieb er Melinda eine Nachricht.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt