Wie sehr die Situationen einander glichen. Wieder saß er am Küchentisch, Silva zu seinen Füßen. Die Decke war dieselbe, rot-weiß kariert, ebenso das Holzbrett mit dem ewig gleichen Graubrot darauf, der Mettwurst, dem Bergkäse, den sauren Gurken. Er trank aus der Flasche, wie immer. Es war seine zweite. Erneut hatte er einen Gast im Haus, direkt unter seinen Füßen. Wenn er mit dem Schuh über das Parkett kratzte, hörte sie es. Wenn er aufstampfte, musste sie annehmen, ein Gewitter zöge heran. Das Haus war hellhörig. Im Erdgeschoss bekam man mit, was auf dem Dachboden geschah und im Obergeschoss hörte man, was im Keller gesprochen wurde. Vor den Disputen seiner Eltern hatte er sich nur in den Wald flüchten können. Die Fichten und Kiefern sprachen seine Sprache. Sie verstanden ihn und bedrohten ihn nicht. Das Moos war weich, der Waldboden duftete himmlisch und die Baumstämme rochen nach Harz. Konnte man hier nicht für ewig bleiben, nie wieder zurückkehren? Die schrille Stimme seiner Mutter hörte er noch wie damals: »Der Thorsten hat ihn auf diese Idee gebracht, dieser fürchterliche Junge. Hast du gesehen, wie hämisch sein Vater mich angegrinst hat! Eine Satansfamilie ist das!« Jan erinnerte sich nur schemenhaft an das Gespräch. Thorsten und er vor dem mächtigen Schreibtisch des Schulleiters, die Eltern jeweils dahinter, ihre Sprösslinge im Blick, stets in der Lage, Nackenschläge zu verteilen. Jan wusste nicht, wie er es angestellt hatte, doch am Ende musste Thorsten die Klasse verlassen. Er kam in die 6c. Drei Räume weiter. Seine neue Klassenlehrerin war verrufen. Sie stieß Schüler mit dem Kopf aneinander, wenn sie Mist bauten. Es fühlte sich gut an, einen Erzfeind zu haben, auch weil Jan inzwischen einen guten Kopf größer war als Thorsten. Beim letzten Klassentreffen vor sechs Jahren war er nicht aufgetaucht. Man erzählte sich, er sei nach Mexiko gegangen. Was er dort tat, konnte niemand sagen. Corinna fragte ihn, ob es wahr sei, dass sie in der sechsten Klasse einen Igel in eine Aldi-Tüte gesteckt und so lange draufgeschlagen hätten bis er tot war. Jan gab vor, sich nicht erinnern zu können, obwohl es damals sein Plan gewesen war und er bedauert hatte, dass das Tier noch lebte als Herr Mittag, der Mathelehrer, sie im Schulgarten entdeckte.
Bis kurz vor Sonnenaufgang hatte er Melinda hören können. Sie hatte geschrien: »Wo ist meine maigrüne Haarklemme, du Drecksack?« Kurz darauf fiel etwas zu Boden. Es gab ein Kratzen, ein Schrammen und ein furchtbares Scheppern. Jan war in den Keller gestiegen und hatte durch die Türluke gesehen. Melinda hatte das Sofa und die Sessel verrückt und das Bett kaputtgeschlagen. Wie sie die Tür des Abstellraums geöffnet hatte, war ihm ein Rätsel. Bevor sie zu ihm laufen und ihm den Finger ins Auge stechen konnte, hatte er die Luke zugeschlagen. »Du feige Sau! Frauen einsperren, das macht dir Spaß! Auf anderem Weg kriegst du wohl keine ...!« Ihr Körper knallte gegen die Tür. Melindas Worte trafen ihn und er nahm sich vor, ihr, entgegen seines Plans, heute nichts zu essen und zu trinken zu bringen. Stattdessen machte er einen Gang durchs Haus. Das Wohnzimmer sah noch immer aus wie vor ein paar Tagen. Das vernagelte Fenster schmerzte ihn. Er sah, dass ein Einschussloch hinzugekommen war und der Bilderrahmen an der gegenüberliegenden Wand zerbrochen auf dem Teppich lag, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Der Schnee vor dem Fenster war zertrampelt worden. Er entdeckte Blutspuren. Der Neuschnee hatte sie nicht vollständig verdecken können. Hinter seinem Haus musste es einen Kampf gegeben haben. Jan spürte erneut die Gefahr. Er sollte sich hier nicht aufhalten. Der Pflasterstein mit dem aufgemalten Totenschädel kam ihm wieder in den Sinn. Der geplatzte Casino-Deal in Bad Harzburg. Der General, welcher nach seinem Geld verlangte. Weshalb sollte er länger hierbleiben, als notwendig? Sein Trumpf im Keller wartete darauf, ausgespielt zu werden. Er würde Melinda noch einmal betäuben müssen und mit ihr auf Stellas Pilzlichtung fahren. Sobald er das Geld in den Händen hielt, hatte er keine Verwendung mehr für sie. Er würde sie entsorgen, wo er schon diesen Richard entsorgt hatte. Im Waldbunker. Auf dem Müllhaufen der Geschichte.
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Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...