Skagen und Melinda atmeten hektisch und hielten sich die Seiten, als sie am Gasthaus ankamen. Erst waren sie schnell gegangen, doch nachdem Bullerjahn Melinda noch einmal angerufen hatte, waren sie in einen leichten Trab verfallen, schließlich gerannt.
Bullerjahn stand am geöffneten Tor und wartete auf sie. Auch er hielt sich die Seite. Mit der freien Hand deutete er zum Haus.
„Fragt Gramberg wo sein Sohn noch stecken könnte! Kerner und Aust klappern seine Freunde ab. Der kleine Mistkerl hat bestimmt 'ne Freundin! Oder 'ne Lieblingsoma oder sowas!"
Melinda deutete auf seine Hüfte.
„Du brauchst einen Arzt! Von wegen Schwimmring, du blutest wie ein angestochenes Schw..!"
Skagen unterbrach sie.
„Hat er gesacht. Meine Swimring ist dick genug, hat er gesacht! Ich wär doch sonst nich weggegangen!"
Bullerjahn nahm die Hand beiseite und ein gelber Kugelschreiber mit ADAC-Aufdruck kam zum Vorschein. Er hatte das Hemd durchdrungen und steckte fast bis zur Hälfte in Bullerjahns Hüfte. Der Stoff seines Hemdes und seiner Hose waren blutgetränkt.
Melinda griff Skagen an der Schulter und schüttelte ihn.
„Kannst du Autofahren?"
Er nickte. Sein Gesicht sah sehr blass aus.
„Das Krankenhaus ist gleich da vorn!"
Sie deutete über den Parkplatz, in Richtung einer Baumgruppe, zwischen deren Ästen man ein großes Gebäude erahnen konnte.
„Du bringst Mattias mit dem Wagen in die Notaufnahme und fährst ihn anschließend nach Hause, wenn sie ihn nicht dabehalten! Mattias, deinen Schlüssel!"
Melinda hielt ihre Hand auf. Bullerjahn gab ihr den Autoschlüssel. Skagen fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne, seine Stirn zeigte tiefe Falten. Dann brachte er Bullerjahn zu seinem Wagen. So hast du dir das hier nicht vorgestellt, Skagen Berggren, was! Bist wohl genauso überrascht von dem, was hier passiert, wie ich, dachte Melinda während sie dem Wagen hinterher sah und dann langsam zurück zum Gasthaus ging, in dem Erik Gramberg wahrscheinlich schon wieder bedröppelt in seinen Bierkrug starrte.
Heute sah Gramberg noch schlechter aus als gestern. Dunkle Ringe unter den geröteten Augen, ungekämmtes Haar, struppiger Bart. Gramberg roch nach Alkohol, Schweiß und Angst. Er war betrunken.
„Verstehen Sie das, junge Frau? Wer bringt denn so ein schönes Mädchen um, einfach so, ratzefatze, von jetzt auf gleich rausgerissen aus dieser wundervollen Welt ..?"
Er rülpste, hielt sich dabei jedoch zum Glück die Pranke vor den Mund. Melinda setzte sich zu ihm. Auf dem fleckigen Tisch lag Bullerjahns Notizblock. Der Stift, mit dem er geschrieben hatte, fehlte. Melinda wusste wo er war. Sie blätterte die dicht beschriebenen Seiten durch. Bullerjahn hatte viel notiert. Er musste eine Menge Fragen gestellt und entsprechend viele Antworten bekommen haben. Beim Überfliegen der Texte las Melinda mehrere Namen, die klangen, als könnten sie zu Janniks Freunden gehören. Sie steckte den Block zu ihrem eigenen in die Manteltasche.
„Herr Gramberg!"
Melinda sprach lauter als sie es normalerweise tat, doch der Wirt reagierte nicht. Er hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und schien zu schlafen.
„Hallo? Herr Gramberg!"
Langsam hob er den Kopf und blickte ihr aus glasigen Augen entgegen. Der starrt durch mich hindurch, dachte Melinda. Der starrt durch mich hindurch, der sieht mich gar nicht. Was aber sieht er? Sie schaute sich um. Erst jetzt bemerkte sie die umgeworfenen Stühle, den umgekippten Tisch, die zerbrochenen Gläser auf dem Boden. Auf der Treppe, die zu Grambergs Wohnung hinaufführte lag ein prall gefüllter Rucksack mit dem Logo irgendeiner Sportmarke, die Melinda nicht kannte. Wahrscheinlich gehörte er Jannik. Sie musste den kurzen Augenblick nutzen, in dem Gramberg ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, bevor er den Kopf zurück auf den Tisch fallen ließ.
„Haben Sie eine Ahnung, wo Ihr Sohn stecken könnte? Hat er eine Freundin, ist er vielleicht bei einer Verwandten, einer Oma, einer Tante?"
Die Augen des Wirts füllten sich mit Tränen.
„Er hat doch nie niemals jemandem was getan, der Kleine! Niemals nicht!"
Wieder stieß er auf. Melinda drehte den Kopf zur Seite, um den schlechten Atem nicht riechen zu müssen. Der gibt sich wirklich Mühe jedes noch so blöde Klischee von einem Wirt zu erfüllen, dachte sie. Grobe Statur, Bierwampe, Rauschebart und sich selbst der liebste Gast am Ausschank. Sie sah ihm zu, wie er den Rest aus einem der zahlreichen Biergläser nuckelte.
„Ihr Kleiner ist offenbar nicht so unschuldig, wie Sie denken! Bullerjahn hat er einen Kugelschreiber in die Seite gerammt. Vorher hat er meinen anderen Kollegen am Arm verletzt! Was ist los mit ihrem Sprössling?"
Es fiel Gramberg sichtlich schwer, sich aufrecht zu halten, und auch wenn er dicht wie eine Haubitze war, so hatte Melinda doch den Eindruck, dass er sich um die entscheidende Antwort herumdrückte.
„Also, Freundin, Verwandte, ein anderer Ort? Wo könnte Ihr Sohn stecken?"
„Er hat keine Freundin, jedenfalls keine, von der ich wüsste. Die Namen seiner Freunde habe ich Bullerjahn schon gegeben!"
„Seine Nummer? Was ist mit seiner Handynummer?"
Gramberg beugte sich zur Seite. Er ächzte und stöhnte. Melinda sah ihn schon unter den Tisch rutschen, doch er fingerte bloß sein Handy aus der Hosentasche und warf es zu Melinda hinüber. Hätte sie nicht rechtzeitig zugegriffen, wäre es zu den Scherben und den Bierpfützen auf den Boden gefallen. Mit flinken Fingerbewegungen öffnete sie die Kontakte. Drei Sekunden später hatte sie Janniks Nummer gefunden.
Auf die Frage, ob schon jemand versucht habe, ihn anzurufen, Bullerjahn vielleicht oder Gramberg selber, bekam sie nur ein Kopfschütteln. Das verstand sie nicht. War ein Anruf nicht das Naheliegendste?
„Was denken denn Sie? Der nimmt doch nicht ab! Hat Angst!"
„Vor was hat er Angst, Herr Gramberg?"
Gramberg fuhr sich durch den filzigen Bart. Melinda schrieb sich die Nummer auf.
„Ich muss ins Bett. Schlafen. Scheißtag!"
„Vor was fürchtet sich Jannik?"
Der Wirt richtete sich auf, wobei er den Tisch mit seinem Bauch bedrohlich in Melindas Richtung verschob.
„Schlafen. Nur schlafen."
„Lief da was zwischen Stella und Ihrem Sohn?"
Melinda musste an Bullerjahns Satz von gestern Abend denken.
Jeder mochte Stella.
Gramberg war schon an der Treppe, stieg über den Rucksack und mühte sich Schritt für Schritt die Stufen hinauf.
„Gemocht hat er sie sehr! Und er hat ihr dabei geholfen, das Zimmer zu renovieren. So ein feiner Kerl, der Jannik."
Wieder ein Rülpser.
„Will doch seinen Abschluss schaffen, ist so fleißig, jeden Tag bis abends in der Schule, und jetzt dieser Scheiß! Warum macht er so einen Scheiß? Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht, Frau Kommissarin!"
Melinda sah ihm nach, wie er die letzte Stufe nahm und am Ende des Flures aus ihrem Sichtfeld verschwand. Sie hörte wie er den klimpernden Schlüsselbund aus der Tasche zog und die Tür zu seiner Wohnung aufschloss. Kurz darauf knallte die Tür ins Schloss.
Melinda musste einsehen, dass sie hier nichts mehr ausrichten konnte. Beim Hinausgehen löschte sie die Lichter in der Gaststube. Draußen zog sie das Eingangstor zu.
Im Laufschritt durchquerte sie die Kastanienallee, rannte um das Forsthaus herum, in dem kein Licht brannte und hinter dem niemand mehr Holz hackte, schmiss sich in ihren Wagen und fuhr mit viel zu hohem Tempo durch die Wohnsiedlung, hinunter in die Stadt, wo sie die Schule finden musste, die Jannik Gramberg besuchte. Sie wusste nicht, wie es ihr gelang, doch sie verfuhr sich kein einziges Mal.
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Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...