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An der scharfen Kreuzung in der Waldstraße fuhr sie nicht rechts hinunter zum Präsidium, sondern links zum Landratsamt, an der Apotheke vorbei und den Innenstadtring entlang ins Stadtzentrum. Ihre Hände glitschten schweißig über das Lenkrad, sie spürte den Puls in ihren Schläfen hämmern. Im Handschubfach fand sie eine Banane und einen Riegel Schokolade. Es war nicht einfach, beides während der Fahrt auszupacken und in den Mund zu schieben, doch Melinda brauchte dringend Zucker und Kohlenhydrate.
Konnte es wirklich sein, dass sie nun allein auf sich gestellt war, Jannik quasi im Alleingang aufstöbern musste? Arndt fiebrig im Bett, Bullerjahn und Skagen im Krankenhaus, sie selbst hundemüde, an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, was sollte das geben? Ihr fiel ein, dass sie Skagen nicht anrufen konnte, da sie seine Nummer nicht eingspeichert hatte. Bullerjahn fiel aus, der hatte im Moment anderes um die Ohren. Was war mit Bea? Die wusste bestimmt auch nicht, welche Schule Jannik Gramberg besuchte, wenn sie ihn überhaupt kannte. Sollte sie zurück zum Gasthaus fahren und den alten Gramberg fragen? Sie kaute zu nachlässig, schluckte zu hektisch, das war schon immer ihr Problem gewesen. Lag wahrscheinlich daran, dass Ella, ihre ältere Schwester, ihr immer alles weggefuttert hatte. Melinda spürte zuerst den dicken Klumpen Banane im Hals, dann blieb ihr für einen kurzen Moment die Luft weg. Sie hustete, keuchte, hätte beinahe das Lenkrad verrissen. Die Augen voller Tränen, den Blick verschleiert, stoppte sie den Wagen mit quietschenden Reifen auf einem Parkstreifen neben der Sparkassenfiliale und stellte den Motor ab. Die Bananenschale ließ sie auf den Boden fallen. Sie riss die Fahrertür auf, sprang aus dem Wagen und hustete was das Zeug hielt bis ihr das Stückchen klebriger Banane vor die Füße klatschte. Das hätte es gewesen sein können, dachte sie. Die Lösung aller Lösungen. Das Ende.
Sie wischte sich den Mund mit dem Handrücken sauber und sah sich um. Hatte sie jemand beobachtet? Erst jetzt wurde ihr bewusst, wo sie sich befand.

Auf der gegenüberliegenden Seite lag der Imbiss, in der sie mit Arndt neulich Pizzen gekauft hatte. Gelbes Licht auf feuchtem Asphalt. Ein neongrüner Schriftzug, der Geruch nach Holzfeuer, gebackenem Hefeteig, geschmolzenem Käse. Melinda richtete sich die Haare und schloss den Wagen ab. Zwei Männer an einem Stehtisch, vor sich Dosen mit Cola und Fanta. Melinda kannte die Profile der Männer, ihre Körperhaltung, ihre Stimmen. Kerner und Aust, was machten die denn hier? Sollten sie nicht Janniks Freunde abklappern, immerhin hatte der kleine Spinner zwei Polizisten verletzt, da war es ziemlich unangebracht, schon jetzt eine Pause einzulegen.
Keiner von beiden bemerkte, wer da zur Tür hereinspaziert kam, so lag der Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sie tippte Aust auf die Schulter, gröber als sie es beabsichtigt hatte. Aust drehte sich ruckartig zu ihr herum und hätte dabei fast Kerners Cola vom Tisch gefegt. Melinda grinste ihn herausfordernd an.
„Hallo Kollegen. Kurze Pizzapause? Habt ihr den Jungen schon gefunden?"
Energisches Kopfschütteln. Aust stand der Mund offen. Sein Blick verriet Unsicherheit. Kerner wirkte gelassener.
„Alles cool, Kollegin. Wir haben Bullerjahns Liste abgearbeitet!"
Er hielt Melinda einen abgegriffenen Bierdeckel hin, auf dem fünf Namen standen. Sie nahm ihn und musterte die hingekritzelten Schriftzüge.
„Was ist mit seiner Freundin?"
Aust zuckte mit den Schultern.
„Haben wir auch geklärt. Er hat keine Freundin. Nicht mehr."
Melinda wurde hellhörig.
„Und, wie heißt die Ehemalige?"
„Von Janniks Kumpel Thorsten Fricke wissen wir, dass Jannik bis vor vier Wochen mit einer Jana Rösner zusammen war."
Kerner tippte auf den Bierdeckel.
„Sie gehört zur Schülerzeitungsredaktion, genau wie Jannik!"
Die Pizzen auf den beleuchteten Karten über dem Tresen sahen verführerisch aus. Einen kurzen Moment erwog Melinda, sich eine Gemüsepizza zu bestellen. Für später, als Belohnung, wenn sie Jannik gefunden hatte. Sie dachte an Arndt. An den Schatten, der in der Ecke seines Zimmers hockte und ihn anstarrte. Melinda hoffte, dass Bea noch immer bei ihm war.
„Und was ist nun mit dieser Jana Rösner? Seid ihr bei ihr gewesen?"
Aust hatte sich wieder gefangen. Er nahm einen großen Schluck aus seiner Fanta-Dose.
„Sie ist im Kino. Mit einer Freundin. Ihrer Mutter hat sie gesagt, dass sie um zehn wieder zu Hause ist."
Melinda nickte ihm zu und besah sich noch einmal die bunten Pizzafotos. Die stark geschminkte Frau hinter dem Tresen musterte sie neugierig.
„Trink eure Dosen leer und kommt mit! Ihr müsst mir den Weg zum Gymnasium zeigen!"
Aust und Kerner sahen sie verständnislos an.
„Mitkommen, einfach mitkommen! Die Pizzen können wir auch später noch abholen!" Und zur Frau hinterm Tresen sagte sie: „Für mich eine Gemüsepizza. Ohne Käse. In einer Stunde hole ich sie ab!"
Sie wusste, das war mehr als optimistisch. Weshalb sie so felsenfest überzeugt war, Jannik Gramberg in nächster Zeit aufzustöbern zu können, wusste sie nicht. Da war einfach dieses wohlig warme Bauchgefühl.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt