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Das erste was Jan Dressler nach dem Tod seiner Eltern getan hatte: er riss die in helles Tuch gestickten und feinsäuberlich gerahmten Sinnsprüche von den Wänden und verbrannte sie im Garten. Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will. Morgenstund hat Gold im Mund. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Viele Jäger sind des Hasen Tod. Noch immer sah er seine Mutter in ihrem Sessel sitzen, den Stickrahmen im Schoß, neben sich das Tischchen mit den Garnrollen und der Sherryflasche. Sticken und am Gläschen nippen waren das einzige, was sie bis zum Schluss noch uneingeschränkt beherrschte. Nach ihrem Schlaganfall hatte sie sich überraschend schnell erholt. Nur die Sprache war nicht zu ihr zurückgekehrt. Wie oft hatte er ihre Stickereien in die Hand genommen und über die Bedeutung der Worte für sein Leben nachgedacht. Immer hatte er gehofft, seine Mutter würde ihm eine Botschaft schicken, war sie auch noch so schwer zu entschlüsseln. Wo Dünkel über den Augen liegt, da kann kein Licht hinein. Aus den Augen, aus dem Sinn. Torheit ist die schwerste Krankheit. Am Ende hatte er einsehen müssen, dass ihre Lebensweisheiten nichts weiter gewesen waren als Millionen bunter Kreuzstiche auf weißem Leinenstoff.

Einen einzigen Spruch, die letzte Arbeit vor ihrem Tod, hatte er sich aufbewahrt und in die Kellerwohnung übers Bett gehängt. Glück im Spiel, Geld in der Liebe. Dieser Spruch war falsch. Es hieß doch Pech im Spiel, Glück in der Liebe. Wie hatte seine Mutter sich bei einem so bekannten Sprichwort irren können? Tagelang hatte sie auf immer dieselben Worte gestarrt und nichts bemerkt? Vielleicht war sie das, die Botschaft, die Jan so sehnlichst erwartet hatte.

Unter normalen Umständen liebte er die Morgenstunden, wenn das Licht der aufgehenden Sonne zwischen den Fichtenstämmen schimmerte, das Rotkehlchen zwitscherte und die Amseln sangen. Heute war das anders. Neben seiner Kaffeetasse mit dem aufgedruckten Rehbock und dem Brett mit geschmierten Broten lagen mehrere aufgerissene Umschläge. Die Briefträgerin hatte die Post wie immer sehr früh gebracht, doch so viel Unheil auf einmal hatte er noch nie im Briefkasten vorgefunden. Die Autowerkstatt Hinrichs schickte ihm schon die zweite Zahlungserinnerung über 2.177 Euro plus Mahngebühren für die Reparatur seines Geländewagens, welche schon im Spätsommer stattgefunden hatte. Das Möbelhaus Eichner erinnerte ihn an die Zahlung von 4.055 Euro für die Lieferung diverser Möbel und Einrichtungsgegenstände, mit der er die Kellerwohnung eingerichtet hatte. Schließlich schrieb ihm Herr Hinrichs von seiner Hausbank, dass die letzte Kreditrate nicht abgebucht werden konnte und sie sich umgehend zu einem Gespräch treffen mussten.

Jan spürte, wie Ärger in ihm hochkochte. Er schlug mit der Faust so kräftig auf den Tisch, dass der Rehbockbecher einen Sprung machte und der halbe Kaffee auf den Tisch pladderte. Das Papier der Mahnschreiben färbte sich hellbraun und begann sich zu wellen. Er grapschte nach einem Wurstbrot und biss so heftig hinein, dass sein Kiefer knirschte. Dann sprang er auf und rannte ohne Schuhe in den Garten, schnappte sich die Axt und begann wahllos Brennholz zu hacken. Dabei motzte und fluchte er wie ein Bierkutscher. Seine Hündin Silva war vorsichtshalber im Haus geblieben. Viel zu häufig schon hatte sie den Zorn ihres Besitzers über sich ergehen lassen müssen.
Jan hieb und schlug auf das Holz ein, als wolle er es zu Brei verarbeiten. Als er nicht mehr konnte, ließ er sich in den nassen Schnee fallen und lauschte dem Hämmern seines Pulses. Sein Zorn war verraucht. Früher war das anders gewesen, da war er tagelang hitzköpfig durch die Gegend gerannt und hatte seinen Mitmenschen das Leben schwer gemacht. Er trauerte dieser Zeit keine Träne nach.

Er fühlte die Nässe durch die Hose sickern. Seine Füße waren taub vor Kälte. Jan erhob sich und trottete zurück ins Haus. Er wählte Melindas Nummer, legte aber nach dem dritten Tuten wieder auf. Sie hatte ihn gebeten, ihr mehr Zeit zu geben. Das verstand er, irgendwie aber auch nicht. Was war bloß los mit ihr? Klar kapierte er, dass sie einen stressigen Job hatte und Zeit zum Ausspannen brauchte, doch die Seele konnte man doch auch zu zweit baumeln lassen.
Er stieg die Treppe hoch und ging ins Schlafzimmer, um Hose und Strümpfe zu wechseln. Melinda war ein komplexes Persönchen, schwer zu knacken. Doch egal wie sehr sie sich sträubte, am Ende würde er triumphieren, würde sich alles zum Guten wenden.

In der Küche nahm er die Briefe, zerriss sie in sehr kleine Teile und schmiss sie in den Abfalleimer. Er trank den Kaffee aus und verschlang das letzte Wurstbrot mit großem Appetit. Dann ging er hinüber ins Arbeitszimmer und plante seinen Tag. Um 9:30 Uhr begann er seine Kontrollfahrt durch den Wald. Ab Mittag musste er im Apenketal Bäume markieren, die gefällt werden sollten. Er brauchte noch einen Termin mit den Holzfällern.

Bevor er das Haus verließ, stattete er seiner Kellerwohnung noch einen Besuch ab. Glück im Spiel, Geld in der Liebe. Die Stickerei seiner Mutter sprang ihm ins Auge. Jan fand noch immer, dass die 4.055 Euro gut angelegtes Geld waren, auch wenn die Räume die meiste Zeit über ungenutzt blieben, was er so nicht geplant hatte. Ihm fiel auf, dass die Tür der Besenkammer offenstand, in der sich neben den üblichen Reinigungsmitteln und -Geräten verschiedene ausrangierte Taschen befanden und ein zerkratzter, lilafarbener Koffer mit den Initialien I. B. verstaubte. Er zog die Tür zu, schloss ab und versteckte den Schlüssel in einer Ritze des senffarbenen Polstersofas.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt