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Immer wenn sie zu dem Hund hinunter schaute hob dieser den Kopf, als wolle er sich davon überzeugen, dass sie es aufrichtig meinte und ihn nicht jeden Moment schlug oder nach ihm trat.

Melinda hatte sich für ein Geschirr anstatt eines Halsbandes entschieden. Sie wusste was Zippo in den vergangenen Jahren hatte erleiden müssen. Die Rute und das Nackenfell waren mit einem Feuerzeug versengt worden. Winkler, sein früherer Besitzer, hatte ihn mit irgendetwas gewürgt und sein rechtes Ohr mit einem Skalpell eingeschnitten.

Um die äußeren Verletzungen machte Melinda sich jedoch weniger Sorgen, die verheilten in wenigen Wochen. Die seelischen Verletzungen waren es, die ihr Kopfzerbrechen bereiteten. Diese waren für Hunde sicherlich ähnlich schwerwiegend, und hatten vergleichbare Folgen wie für traumatisierte Polizeibeamte.

Melinda blieb alle paar Meter stehen und ließ den Hund an der Bordsteinkante, an Mauervorsprüngen, an Grasbüscheln schnuppern. Zippo hatte eine Menge nachzuholen. Melinda wollte lieber nicht wissen seit wann diesem Tier kein Spaziergang mehr vergönnt gewesen war. In ihrer Jackentasche klapperten zwei Packungen Schmerzmittel, die Dr. Grimme ihr für den Notfall mitgegeben hatte. Die Kabelbinder hatten tiefe Spuren hinterlassen. Dr. Grimme hatte Zippo am Ohr, an den Hinterläufen und an der Rute nähen müssen. Doch er war ein zähes Tier. Bereits eine Stunde nachdem er aus der Narkose erwacht war, lief er wieder in der Praxis herum und hielt Marie, Dr. Grimmes Assistentin, auf Trab.

Melinda zog den zusammengefalteten Zettel aus der Jackentasche, auf dem sie die Adresse des Schrebergartens notiert hatte. Deren Besitzer verkauften heute Vormittag allerlei Krimskrams, unter anderem auch Fahrräder. Der ständig defekte Wagen ging Melinda schon länger auf die Nerven. Sie sehnte sich nach einem fahrbaren Untersatz, mit dem sie unkompliziert und ohne nervige Ampelzeiten durch die Stadt kam. Außerdem brauchte sie dringend Bewegung.

Dr. Grimme hatte ihr den Weg beschrieben: Zuerst ging es über die Sösebrücke, dann durch die Fußgängerzone bis zur Marktkirche. Von dort aus die Scheffelstraße hinauf, durch die kleine Gasse zum Spritzenhaus. Dann einmal links abbiegen, kurz darauf wieder rechts, hinunter in die Krankenhausgasse, die sie zum Park und zu den Schrebergärten führte. Eigentlich ganz einfach. Trotzdem musste Melinda unterwegs noch zwei Mal nachfragen. Die vielen Gassen voller Fachwerkhäuser sahen sich einfach zu ähnlich.

Über Nacht hatte es kräftig geschneit. Am Morgen jedoch waren die Temperaturen wieder weit über Null gestiegen und hatten dafür gesorgt, dass sich die weiße Pracht in grauen Matsch verwandelte. Was konnte man im Oktober anderes erwarten? Skiwetter? Um diese Jahreszeit ging man in die Wälder und sammelte Steinpilze.

Sie kamen an die große Wiese am Schwimmbad. Für einen kurzen Moment überkam Melinda der Wunsch, Zippo von der Leine zu lassen. Als sie jedoch die vielen anderen Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern entdeckte, verwarf sie die Idee. Sie kannte Zippo noch nicht gut genug, und konnte kaum abschätzen wie er sich anderen Hunden gegenüber verhielt. Sie hatte keine Lust, sich als frisch gebackene Hundebetreuerin gleich zwischen Zähne bleckende und ineinander verbissene Vierbeiner zu schmeißen. Sie wollte es lieber langsam angehen lassen. Außerdem war Zippo sowieso mit anderen Dingen beschäftigt. Die anderen Hunde schienen ihn gar nicht zu interessieren.

Statt sie in Richtung Wiese zu zerren zog er Melinda in das Gebüsch hinter der Sitzbank. Bestimmt hatte jemand dort Essensreste hingeschmissen. Zippo war kräftig. Notgedrungen musste Melinda ihm durch die Büsche hinterher stolpern. Dann blieb er abrupt stehen. Die Leine hatte sich um die Zweige eines Gebüschs gewickelt.

„Zippo. Zippo, komm her, braver Junge!"

Melindas Armkraft war nicht von schlechten Eltern, doch Zippos Wille war stärker. Er zuckte nicht einmal mit dem Kopf. Irgendetwas war da auf dem Boden, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Melinda ließ die Leine einfach fallen und ging zu ihm. Zippo hatte einen Pilz gefunden. Einen besonders ekeligen. Der weiße Stiel war dick wie ein Daumen, die Kappe grauschwarz, rissig und voller Fliegen. Und dann der Geruch! Der Pilz stank nach Jauchegrube, nein, eher nach Aas. Melinda hielt sich die Nase zu. Sie ahnte was als nächstes kommen würde.

Bevor Zippo das Maul um das stinkende Ding schließen konnte, packte sie ihn am Geschirr und zog ihn zur Seite.

„Oh, sie haben eine Stinkmorchel, einen Leichenfinger gefunden!"

Melinda fuhr herum und blickte in das freundliche Gesicht einer Frau um die Sechzig, die einen hellbraunen Dackel an der Leine führte.

„Die mögen die Hunde besonders. Riechen nach verwestem Fleisch."

Melinda zog Zippo noch ein Stück weiter zu sich heran.

„Leichenfinger? Ein komischer Name für einen Pilz!"

Die Dackelfrau legte den Finger an den Mund und dachte nach.

„Er hat noch andere Namen! Pfurzglocke, Satyr, Eichelschwamm, Morcheltrüffel, Aasmorchel."

Kleine Morchel, tausend Namen. Melinda konnte ihre Verblüffung nicht verbergen. Da hatte sie beinahe ihr ganzes bisheriges Leben im Harz verbracht, und kannte doch kaum etwas von dem, was in den Tiefen der Wälder wuchs und gedieh.

Die Dackelfrau bückte sich, schaufelte mit der Hand das Laub zur Seite und zog ein paar tischtennisballgroße, weiße Kugeln aus dem Boden.

„Hier, junge Stinkmorcheln! Hexeneier."

Sie hielt sie Melinda unter die Nase.

„Die stinken noch nicht. Gebraten sind die eine Köstlichkeit!"

Jetzt erst bemerkte Melinda den zur Hälfte gefüllten Leinenbeutel, den die Dackelfrau über der Schulter trug. Mit einem flinken Handgriff ließ sie die Hexeneier darin verschwinden. Dann verabschiedete sie sich, griff die Leine etwas fester und stapfte weiter in die Böschung hinein, bis Melinda sie nicht mehr sah und nur noch das Knacken der Äste hörte.

Melinda streichelte Zippo über den Kopf. Er hatte der Morchel tatsächlich widerstanden und sich daher eine Belohnung verdient. Gleich nachher wollte sie ihm beim Metzger eine große Fleischwurst kaufen, auch eine Packung Hundefutter musste sie noch besorgen. Plötzlich fiel ihr ein, dass heute Sonntag war und sie das Vorhaben wohl oder übel auf morgen verschieben musste.

Nachdem Zippo sein Geschäft verrichtet hatte gingen sie über die Bahngleise hinauf zu den Schrebergärten. Es war neun Uhr. Melinda hoffte inständig, dass sie das Beste nicht verpasst hatte und etwas Brauchbares für sie übrig geblieben war.



Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt