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Melinda erwachte von ihrem eigenen Zittern. Der Ofen war ausgegangen. Eiseskälte erfüllte die Hütte. Die Decke war von der Bank gerutscht und lag unter dem Tisch. Zippo hatte es sich darauf gemütlich gemacht. Er schlief seelenruhig. Melindas Nacken schmerzte. Sie sah auf ihr Handy. 3:22 Uhr. Das Display tauchte die Holzwände in ein knochenbleiches Licht. Melinda stand auf, fischte ein paar Blätter vom Boden, die aus der Akte gefallen waren, trat ans Fenster und starrte nach draußen. Eisblumen krochen über die Scheibe. Im Garten war es stockdunkel. Ein kräftiger Wind brauste um das Haus, der die Holzwände knacken und die Tür in ihren Angeln klappern ließ. Melinda hoffte sehnlichst, dass ihre Behausung standhielt.

Sie öffnete die Ofentür, sah, dass noch Glut vorhanden war und schmiss zwei Scheite hinein. Wenige Minuten später war die Kälte verschwunden. Mit einem Glas Wasser kehrte Melinda zum Tisch zurück. Für kurze Zeit spielte sie mit dem Gedanken, ein paar Tabletten einzuschmeißen, ließ es dann aber sein, weil ihr die Wirkung des letzten Pillencocktails noch immer Schwindel und Kopfschmerzen bereitete. Trotzdem war sie heute Nacht gut mit ihrer Arbeit vorangekommen. Wenn sie die Nase vorn haben, es Christiansen und ihren Spezialisten aus Hannover zeigen wollte, dann musste sie zügig den nächsten entscheidenden Schritt gehen, bevor die Pseudo-Experten ihre Ermittlungen aufnahmen. Heute Nachmittag fand die Pressekonferenz statt, bei der das neue Ermittlungsteam vorgestellt, zum ersten Mal Stellas voller Name öffentlich genannt und aller Voraussicht nach ein Bild von ihr gezeigt wurde. So lief das immer ab. Erst die Geheimniskrämerei, dann der große Auftritt. Danach würde manches anders sein. Eine Bevölkerung in Alarmbereitschaft, die Zeitungen voller Spekulationen, Reporter und Kameras rund um die Uhr. Melinda war ein gebranntes Kind. Nach ihrer Befreiung aus Freislers Hütte hatte sie diesen Rummel und dieses Gezerre schmerzhaft am eigenen Leib erfahren müssen. Sie hatte es fürchten gelernt. Sie war froh, nicht mehr offizieller Teil des Ermittlungsteams zu sein.
Was konnte sie bis morgen Nachmittag zuwege bringen? Auf welchem Wege verschaffte sie sich den entscheidenden Vorteil? Melinda verfügte über keinen Plan. Sie konnte nichts tun, als die Ärmel hochzukrempeln, die Dinge anzupacken und zu schauen was sich ergab.

Zippo lag noch immer auf ihrer Schlafdecke. Da sie ihn nicht verscheuchen wollte, holte sie sich eine Wolldecke und wickelte sich darin ein. Sie dachte erneut an den Wandersmann und Bullerjahns Darlegungen zu Wesen und Verhalten dieser geisterhaften Erscheinung. Melinda fragte sich immer noch, weshalb sie so wenig Angst verspürte. Bei keiner ihrer Begegnungen mit dem Wandersmann, in welcher Form auch immer es sich ihr gezeigt oder mit ihr gesprochen hatte, war sie panisch geworden oder davongerannt. Sie hatte nur dagestanden und gelauscht, hatte versucht, das Rauschen und Wispern, das Knacken und Zischeln zu deuten, den verborgenen Sinn des Gehörten zu entschlüsseln. Weshalb hatte sie nicht die Angst gepackt, als Bullerjahn ihr behutsam zu verstehen gab, dass der Wandersmann vom toten Ebert auf sie übergesprungen war. Genau betrachtet war das eine ungeheuerliche, albtraumhafte Vorstellung! Neulich am Fluss hatte sie seinen Schatten im Wasser gesehen. Er hatte mit ihr gesprochen, hatte ihr in umständlichen Worten seine Hilfe angeboten, wenn sie im Gegenzug etwas für ihn tat. Um was genau es sich dabei handelte, hatte sie seinen Worten nicht entnehmen können, zu sehr ähnelten sie dem Schlürfen der Strudel, dem Plätschern der Wellen. In der Baumkrone am Rathaus neulich Nacht hatte er Freislers Hütte erwähnt. Er hatte angedeutet, dass sie sich dort schon einmal begegnet waren. Melinda hatte nicht verstanden, wovon er sprach.
Wo war er jetzt? Hockte er neben ihr auf der Bank? Machte er sich an ihrer Pistole zu schaffen? Trieb er sich irgendwo draußen im Garten herum und bereitete dort den nächsten Schabernack vor?
Er allein bestimmte, wann er sich Melinda zeigte, nicht sie. Er allein entschied, wann er ihr welche Informationen und Hilfestellungen zuteilwerden ließ. Bisher war der Wandersmann nichts weiter als ein Schatten, eine Stimme in ihrem Kopf, eine rätselhafte Anomalie der Natur. Solange es dabei blieb, war es ihr recht. Alles andere konnte und wollte sie sich lieber nicht ausmalen.
Sie spürte wie ihr Kopf zur Seite sank. Ohne ein paar zusätzliche Stunden Schlaf würde sie den morgigen Tag nicht überstehen. Sie schob sich das Kissen unter den Kopf und rollte sich auf der Bank so gut es ging zusammen. Für einen Moment hörte sie noch den Wind über das Dach pfeifen und Schneegriesel gegen die Fensterscheibe prasseln. Dann schlief sie ein.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt