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Herr Steiner entsprach ganz dem Klischee eines Hausmeisters. Halbglatze, Walroßschnäuzer,  kariertes Hemd. Melinda kicherte, ohne zu wissen warum. Ihr Kopf schmerzte und sie bemerkte, dass sie den Kopf merkwürdig schief hielt. Steiner war nicht allein. Neben ihm stand sein Zwillingsbruder, eine exakte Kopie des Originals, und hinter ihm im Flur tauchte gerade eine dritte Kopie auf. Melinda kniff sich indie Wange. Das tat weh, sie träumte also nicht. Trotzdem stimmte etwas nicht mit ihr. Aust griff sie an die Schulter.

„Alles in Ordnung, Kollegin? Sie sehen so bleich aus!"

Melinda winkte ab.

„Alles bestens!"

Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, die in ihren Ohren schleppend und scheppernd klang, wie durch ein Metallrohr geschickt.

Steiner war jetzt wieder allein, seine Brüder hatten sich verzogen. Zum Glück! Man sah Steiner an, dass er sich gestört fühlte. Wahrscheinlich hatten Aust und Melinda ihn beim Anschauen seiner Lieblingsserie unterbrochen. Melinda wollte etwas sagen, etwas wie „Guten Abend, Herr Steiner, wir suchen einen Schüler, JannisGramberg. Haben Sie ihn heute Abend gesehen?", doch sie bekam kein einziges Wort heraus, nur ein Krächzen, ein heiseres Flüstern. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, Speichel lief ihr aus dem Mundwinkel. Melinda spürte, dass sie den Bogen überspannt hatte und der vergiftete Pfeil der Wirklichkeit dabei war, sich zu lösen, in den nächtlichen Himmel hinaufzujagen, eine formvollendete Kurve zu fliegen, zu ihr zurückzukehren und sie mitten ins Herz zu treffen. Die Erkenntnis ließ sie taumeln. Jemand fing sie auf. Sie drehte den Kopf nach hinten. Kerner, was machte der denn hier? Hatte er nicht gerade noch im Efeu gehangen? Das Wispern, das Rascheln, die lebenden Pflanzen, der Wandersmann hinter den Bäumen. Melinda begann zu ahnen, was es damit auf sich hatte, doch sie verscheuchte den Gedanken.

Aust sprach mit Steiner während Kerner Melinda stützte.

„Wir suchen Jannis Gramberg. Er hält sich in der Schule auf!"

Steiners Fragen blockte Aust kühl ab. Der Hausmeister verschwand im Haus und kam mit einem Schlüsselbund wieder. Gemeinsam gingen sie durch eine versteckte Gartenpforte seitlich des Bungalows, überquerten eine kleine Rasenfläche, auf der sich ein Rasensprenger drehte und betraten das Schulgebäude über einen Hintereingang. Melinda hätte sich am liebsten in den nassen Sprühnebel fallen lassen, mit offenem Mund und weit von sich gestreckten Armen.

Die Schulflure lagen im Dunkeln. Durch die Fenster drang nur wenig Licht herein, doch es genügte, um sich orientieren zu können. Steiners Hand suchte den Lichtschalter.

„Auslassen!"

Kerners Stimme  knallte in Melindas Ohren wie ein Schuss. Noch immer hielt Kerner sie am Arm, worüber sie insgeheim froh war. Melinda fühlte sich wie eine stumme, mit Gas gefüllte Schlenkerpuppe, die jederzeit davonfliegen konnte, wenn man sie nicht auf dem Boden hielt.

Sie dachte an den Moment, in dem sie nach Arndts Tablettendose gegriffen und festgestellt hatte, dass er seine Medikamente nicht nahm. Wie konnte das sein? Er meisterte den Alltag ohne Chemie, und sie konnte nicht nur nicht ohne, sie nahm sogar mehr von dem Zeug, als ihr Körper vertrug! Melinda fühlte sich klein, schlecht und hilflos.

Jetzt wenigstens Jannis noch finden, dachte sie, vielleicht war er schon der Schlüssel zu Stellas Tod. Was danach kam, war ihr egal.

Sie spürte wie ihre Beine nachgaben, wie sie zu Boden sank, wie Kerner den schützenden Griff um ihren Arm lockerte, wie Aust und Kerner sie neben dem Schulkiosk in der Pausenhalle auf den Boden gleiten ließen. Es ging nicht mehr, sie konnte nicht weitergehen. Farben breiteten sich vor ihren Augen aus, die zusammenflossen, um kurz darauf wieder auseinanderzutreiben, die Formen bildeten, Körper beschrieben. Melinda schloss die Augen, die Welt drehte sich auf den Kopf. Das wares also, das Leben der Melinda Sieben, dachte sie, kurz und ereignisreich, intensiv und schön, verstörend plausibel.

Sie lag auf dem Boden, die Wange auf kalten Steinplatten. Sie erkannte Muster, die sich durch das Material zogen wie Rinnsale, Bäche ,Flüsse. Melinda begann zu weinen, ganz zart zunächst, dann heftiger. Ihre Tränen gesellten sich zu den Mustern im Stein. Melinda fror. Sie rollte sich zusammen, versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, schloss die Augen und überließ sich ihrem Schicksal. Ihr Verstand kippte ins Dunkel, ließ sich Flügel und Flossen wachsen und ging auf Fahrt zu nie gekannten Gefilden.

Irgendwann kehrte sie für einen winzigen Moment zurück. Sie hörte Stimmen und öffnete für einen Augenblick die Augen. Sie sah Arndts Gesicht. Er sprach mit ihr, doch sie verstand seine Worte nicht. Eine nasse Hundeschnauze berührte ihre Nasenspitze. Zwei verschwommene Gestalten näherten sich, jemand leuchtete ihr in die Augen, dann wurde sie angehoben und sanft davongetragen. Er holt mich, dachte Melinda, der Weltenschöpfer holt mich zu sich. Wie mag er aussehen? Ist er ein Mann, oder eine Frau? Riecht er nach Baumharz und Borke, knackt sein Körper wie trockene Äste, wenn er sich bewegt? Hinterlässt er kryptische Botschaften auf Küchentischen? Ach, ich werde ihn all das fragen, wenn ich bei ihm bin. Ich werde ihn so vieles fragen. Die Augen fielen ihr wieder zu und sie spürte, wie ihr Verstand erneut auf Wanderschaft ging, ins düstere Nirgendwo.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt