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Gegen elf stellte Melinda den Koffer und die beiden Reisetaschen fertig gepackt neben die Wohnungstür. Danach lief sie mit Zippo eine halbe Stunde lang an der Söse entlang, dieses Mal in östlicher Richtung, dorthin, wo die Äste der Laubbäume bis aufs Wasser hinabhingen, wo kein Verkehrslärm das Gurgeln und Plätschern übertönte, wo an manchen Tagen ein junger Schwarzreiher auf Fische lauerte. Sie passierte den schmalen Pfad hinter der weiß getünchten Jugendherberge, aus deren offenstehenden Fenstern Hosen und T-Shirts hingen, am Kindergarten vorbei, wo Kinder in bunten Regenjacken auf nassen Spielgeräten herumkletterten und schlotternde Erzieherinnen ihnen von überdachten Sitzplätzen aus zusahen. Auf den Tennisplätzen war um diese Zeit noch nichts los. Nur ein älteres Ehepaar drosch den Ball über das Netz, als gäbe es kein Morgen.

Melinda ließ sich auf einer Bank am Ufer des Flusses nieder und streckte die Beine aus. In der Jackentasche fand sie eine halbe Rolle Pfefferminzbonbons, von denen sie sich einen in den Mund schob. Auch Zippo hielt sie einen hin. Er schnüffelte, leckte mit der Zungenspitze daran, zog ihn Melinda mit der Schnauze vorsichtig aus der Hand und ließ ihn dann auf den Boden fallen, wo er unbeachtet liegen blieb.
In der Klinik, kurz nach ihrem Erwachen, als sie begann, Zukunftspläne zu schmieden, hatte sich für sie alles so leicht, so logisch und unzweifelhaft angefühlt. Die Quittierung des Dienstes, der Kauf des Schrebergartens, ein Leben als private Ermittlerin, frei, ungebunden, ohne Weisungen von außen. Ein alternativloses Vorhaben, in sich schlüssig, eine runde Konzeption. Nun kamen ihr Zweifel.

Bin ich stark genug, auf eigene Faust zu handeln, mein eigenes Ding durchzuziehen? Bin ich zuverlässig, kann man mir vertrauen oder bin ich wankelmütig, schwanken meine Fähigkeiten wie die Witterung in dieser Stadt, entwickeln sich meine Launen mit der Qualität der Drogen, die ich mir einwerfe?

Zum ersten Mal seit Monaten dachte Melinda an ihren Kontostand. Die tausend Euro für den Garten konnte sie noch bezahlen, doch danach würde es verdammt düster werden. Etwa fünfhundert blieben ihr noch bis Monatsende. Schon im November würde sie keine Bezüge mehr erhalten. Wovon sollte sie leben? Sie dachte an ihre Wohnung in Goslar. Während des Aufenthalts in der Ostsee-Klinik hatte sie die Mietzahlungen vergessen, die sie jeden Monat bar bei der Hausmeisterin im Nachbarhaus begleichen musste. Ihre Freundin Birte hatte einen Lagerraum für sie gemietet und mit Bekannten die Wohnung ausgeräumt. Melinda fürchtete sich vor der Fahrt nach Goslar, dem Treffen mit Birte, der Übergabe des Lagerraumschlüssels, dem Geld, das sie Birte schuldete. Diese scheußliche TV-Sendung kam ihr in den Sinn, die sie in früheren Nächten allein auf dem Sofa viel zu oft gesehen hatte, eine Sendung, in der die Inhalte besitzloser Lagerräume an merkwürdige Leute meistbietend versteigert wurden. Vielleicht ließe sich das eine oder andere Stück ihrer eigenen Habseligkeiten ja auch zu Geld machen. Einen Versuch war es wert. In ihrer Gartenhütte benötigte sie ohnehin nichts als ein Bett, einen Tisch, ihren Sessel, zwei, drei Stühle, eine Kommode. Alles Übrige würde sie sich auf dem Flohmarkt zusammensuchen.

Melinda betrachtete ihre schlammigen Stiefel und spürte die Feuchtigkeit der Bank durch den Hosenboden kriechen. Was war das für ein Wetter! War das noch der Herbst? Wollte es schon Winter werden? Heimlich wünschte sie sich eine Schneedecke, die ihr bis zum Hals reichte. Herrlich fester Packschnee und obendrauf eine locker-leichte Flockenschicht. Von ihr aus konnte es schneien, Tag und Nacht. Egal ob die Straßen unpassierbar wurden, kein Auto, kein LKW mehr fahren konnte. Melinda liebte den unverschuldeten Ausnahmezustand, wenn alles stillstand, der Trubel der Welt den Atem anhielt, anhalten musste, alles von einem dicken weißen Laken zugedeckt wurde, die Stimmen und Geräusche nur noch gedämpft zu vernehmen waren. Wie sie einen solchen Winter in ihrem Gartenhaus überleben wollte, hatte sie sich jedoch nicht überlegt. Sie versuchte sich zu erinnern, ob es in der Hütte einen Ofen gab. Wenn ja, dann war es gut. Wenn nicht, dann trieb sie schon irgendwo einen auf!

In ihrer Manteltasche vibrierte das Handy. Melinda verspürte keinerlei Lust, es herauszuholen. Welche Nachrichten waren wichtig, welche unwichtig? Welche duldeten keinen Aufschub, welche konnte sie getrost ignorieren? Die kleinsten Entscheidungen fielen ihr unendlich schwer. Heimlich hoffte sie, dass Jan ihr geschrieben hatte.

Weshalb ruft mich der Kerl nie an und schickt mir stattdessen seine albernen Wald- und Natur-Emojis? Ist er schüchtern, misstraut er seiner eigenen Stimme? Geschriebene Worte sind geduldig, gesprochene Worte erfordern Spontanität und Reaktionsvermögen.

Sie griff Zippo sanft ins Fell und kraulte ihn zwischen den Ohren. Was hatte die Tierärztin gesagt, Zippo sei ein Mix aus Golden-Retriever und Schäferhund? Die braunen, gütigen Augen, das champagnerfarbene Brustfell, die schwarze Rute und das dunkle Rückenfell. Dazu die Liebe zum Wasser und ein unbändiger Drang zum Apportieren von Stöcken, Fallobst und Gummibällen. Noch immer konnte Melinda es nicht fassen, wie sein früherer Besitzer ihm so grausame Dinge hatte antun können. Zippos Wunden waren inzwischen verheilt. Ein letzter Kontrolltermin stand noch aus. Melinda schob ihn vor sich her, weil sich in ihr der Eindruck verfestigt hatte, dass Dr. Grimme mehr von ihr wollte als die übliche Beziehung zwischen Ärztin und Hundebesitzerin.

Jan hatte zwei Nachrichten geschickt.
Alles in Ordnung, Frau Kommissarin? Kein Emoji.
Ich möchte dich wiedersehen! Auch unsere Hündinnen sollten sich dringend näher kennenlernen! Zwei Hunde-Icons mit herausgestreckten Zungen. Der eine weiß, der andere schwarz.

Ihre eigenen Gedanken verunsicherten sie. Schwarz und Weiß. Ying und Yang. Das Helle und das Dunkle. Das Bekannte und das Unbekannte. Hat er sich etwas dabei gedacht? Ich glaube kaum.

Sie riss den Kopf herum. Hinter ihr im Gebüsch knackte es. Zippo sprang auf und begann zu knurren. Ein Schatten sprang an ihr vorbei. Oder glitt er, floss er an ihr vorbei? Ausladend, flächig, sehr dunkel. Unten am Fluß klatschte etwas Großes ins Wasser, als hätte jemand Findlinge hineingeschmissen. Melinda sah auf ihr Handy. Kurz vor zwölf. Sie musste sich beeilen. Zippo zog wie ein Wilder an der Leine. Er wollte zum Fluss, dorthin, wo Melinda lieber nicht hinwollte, weil sie wusste, wer sie dort erwartete. Sie ging trotzdem, folgte Zippos Drängen allzu bereitwillig, weil all diese Fragen in ihr nagten, sie von innen zu zerreißen drohten, weil sie Antworten suchte, Antworten brauchte wie die Luft zum Atmen.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt