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Melinda steckte die siebzehn Euro in ihr Portemonnaie. Bereits jetzt bereute sie ihre Spendierfreudigkeit. Elf Euro für einen mit Dosengemüse und Industriesalami belegten Teigfladen? Was war nur los mit dieser Welt? Ihre Gedanken verselbstständigten sich. Sie rechnete durch, was sie für dreiunddreißig Euro kaufen konnte, genaugenommen nicht mehr kaufen konnte. Es wurde Zeit, dass sie sich um ihre Finanzen kümmerte. Sie hoffte, dass sich dieser Bretschneider aus Riefensbeek bei ihr meldete. Im Gespräch mit Arndt hatte es so geklungen als wäre Bretschneider bereit, sie für ihre Ermittlungsdienste zu bezahlen. Das sollte ihr recht sein.

Die Pizza war gut, doch nach einer Hälfte war Melinda satt und klappte den Karton zu. Jannik und Sophie mampften ungerührt weiter.
»Habe ich irgendeine Chance, meine Fotoausrüstung ersetzt zu kriegen? Gibt es da sowas wie 'ne Versicherung?«
Sophie legte zwei Pizzastücke aufeinander und biss hinein. Fett tropfte in den Karton. Melinda schüttelte den Kopf.
»Deine Eltern müssten der Versicherung weismachen, dass du hingefallen bist oder dich ein Auto gerammt hat. Irgend sowas. Die beiden Schläger können wir wohl kaum belangen. Wir kennen ja nicht mal ihre Namen.«
»Aber ich habe Bilder.«
Sophie zeigte auf ihre zerknautschte Fototasche, an der halb abgelöst ein schmutziger Einhorn-Sticker klebte. Jannik schaute hinein.
»Die Kamera ist heil geblieben?«
»Ist sie!«
»Und du hast diese Typen fotografiert?«
»Jepp!«
Das Thema Entschädigungsanspruch schien damit zunächst geklärt.
Sophie beugte sich zu Melinda nach vorn.
»Was machen wir jetzt?«
Melinda stellte denPizzakarton auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Zippo, der sich im Fußraum zusammengerollt hatte, hob den Kopf.
»Keine Ahnung. Mir gehen tausend Dinge durch den Kopf. Ich weiß gerade nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Ein weiteres Problem ist, dass offiziell andere Kollegen Stellas Mord untersuchen. Ich habe keine Lust, denen in die Quere zu kommen.«
Sophie klatschte in die Hände und stieß einen Freudenschrei aus.
»Dann ermitteln wir undercover? Total geheim und unsichtbar?«
»Es bleibt uns nichts anderes übrig.«
Um ein Haar wäre Sophie der Pizzakarton vom Schoß gerutscht. Jannik konnte ihn gerade noch festhalten. Melinda steuerte den Wagen vom Parkplatz. Sie wusste nicht, wohin sie fahren sollten, also entschied sie sich, zum Garten zurückzukehren. Dort würden sie über weitere Schritte beratschlagen. Jannik hatte sich die ganze Zeit über zurückgehalten, doch nun konnte er seine Bedenken nicht mehr verbergen.
»Wir haben aber nur noch das Wochenende. Am Montag geht die Schule wieder los!«
Sophie verzog das Gesicht und buffte ihm in die Seite.
»Schule, Schule, Schule. Blablabla. Mensch Jannik, da passiert endlich mal was in diesem Kaff und du redest bloß von Schule!«
»Ist halt auch wichtig.«
»Mann, diese Kerle heutzutage! Nichts mehr im Ei!«
Melinda lächelte in sich hinein und hoffte, dass die zwei es nicht bemerkten.
»Wir machen es wie besprochen, Sophie. Du hörst dich in den Clubs und Kneipen um, ob jemand Stella kannte und du Jannik ...«
Sophie klappte den Karton zu und plinkerte ihm von der Seite zu.
»Und Jannik begleitet mich, nicht wahr!«
Widerwillig stimmte er zu, doch so ganz zufrieden war er nicht.
»Was ist mit den anderen Skatbrüdern? Soll ich mir die nicht doch noch mal ansehen?«
Die Ampel am Königsplatz sprang auf Rot und Melinda musste in die Eisen gehen. Der Wagen schlitterte über die Fahrbahn, kam aber noch kurz vor der Haltelinie zum Stehen. Der Fahrer hinter ihr hupte wild. Steig nur aus, dachte Melinda, steig nur aus und klopfe an die Seitenscheibe. Wirst dein blaues Wunder erleben. Ich bin geladen, sowas von geladen. Melinda spürte, wie sie die Wut packte. Eine Wut, die sie plötzlich und unerwartet überfiel. Es war doch alles prima gelaufen. Sie hatten die Attacke am Forsthaus überlebt, Sophie und Jannik waren in Sicherheit und die Pizza hatte köstlich geschmeckt. Was war los mit ihr? Die Antwort erhielt sie prompt, als es neben ihrem Ohr zu flüstern begann. Der Wandersmann war erwacht und schickte ihr Botschaften. Ausgerechnet jetzt. Sie schaltete das Radio aus. Die Ampel sprang auf Grün. Wie gern hätte sie jetzt ein Aufnahmegerät gehabt, mit dem sie die fremdartigen Mitteilungen aufzeichnen konnte, deren Quelle, das hatte sie inzwischen begriffen, sich nicht außerhalb, sondern innerhalb ihres Kopfes befand. Der Wandersmann war kein Spukwesen, das sich unabhängig von ihr durch die Welt bewegte. Er war ein Teil von ihr, untrennbar mit ihr verbunden. Es wunderte sie nicht, dass der alte Ebert fest daran geglaubt hatte, verrückt geworden zu sein. Mit Eberts Tod hatte ihn der Wandersmann verlassen und sich ein neues Ziel gesucht. Melinda. Doch weshalb ausgerechnet sie und nicht jemand anderes? Arndt vielleicht oder Bullerjahn oder Bea. Oder einen der vielen anderen Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt? War es nur Zufall gewesen?
Hinter der Ampel bog sie rechts ab und hielt erneut am Fahrbahnrand. Im Handschuhfach fand sie ein Stück Papier und einen Kugelschreiber. »Seid doch mal ruhig!«
Jannik und Sophie verstummten. Melinda stieg aus und knallte die Tür zu. Sie brauchte einen Moment Ruhe. Das Rauschen und Knacken in ihrem Kopf war zu einem Riesenlärm angewachsen. Melinda hielt sich die Ohren zu und taumelte ein Stück die menschenleere Bahnhofsstraße hinunter, vorbei an einem geschlossenen Schönheitssalon und einer Arztpraxis, deren Fenster mit blinkenden Sternen geschmückt war. An einer Bank blieb sie stehen, wischte den Schnee herunter und setzte sich hin. Mit zittrigen Fingern schrieb sie aufs Papier, was der Wandersmann ihr zuraunte, oder was sie glaubte zu hören. Jannik und Sophie waren aus dem Auto gekrabbelt und blickten besorgt zu ihr hinüber. Melinda bedeutete ihnen, sie für einen Moment in Ruhe zu lassen. Das Knarzen und Krachen in ihrem Kopf war einem merkwürdigen Singsang gewichen, einem Singsang, der sie an das Rauschen von Bäumen, das Zwitschern von Vögeln, gepaart mit menschlichen Gesängen, rituellen Verszeilen, Seufzern, Aufschreien, Gemurmel erinnerte. Melinda schrieb und schrieb bis ihr das Handgelenk schmerzte. Nach kurzer Zeit war das Blatt vollgeschrieben. Sie musste es umdrehen, doch auch die zweite Seite füllte sich rasch. Ein Mann mit Hut ging an ihr vorbei, sah sie nachdenklich an, grüßte und ging weiter. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, er würde sich neben sie setzen und ihr die Wange tätscheln. Sie hörte Zippo leise jaulen und sah, dass Jannik ihn nur mühsam halten konnte. Irgendwann wurde Zippos Unruhe zu groß und Jannik ließ ihn laufen. Mit heraushängender Zunge kam er bei ihr an, sprang hoch und hätte mit seinen Pfoten beinahe das Papier zerfetzt. Melinda konnte es gerade noch in die Höhe reißen. Es war als hätte der Hund den Wandersmann vertrieben. Kaum war er bei ihr angelangt, verstummte der grüngoldene Singsang und Melinda nahm wieder die Geräusche der Stadt wahr. Das entfernte Rauschen der Stadtautobahn, das Knirschen des Schnees unter ihren Schuhen, der um die Häuser wehende Wind, Kinder, die sich am Eingang der Fußgängerzone mit Schnee bewarfen. Mit einem Mal überkam sie die Lust auf gebrannte Mandeln, Zuckerwatte und Glühwein mit Schuss. Auch ein Kinobesuch erschien ihr als das Paradies auf Erden. Sie freute sich auf die Vorweihnachtszeit. Genießen konnte sie diese aber erst, wenn sie Ninas Mörder gefunden hatte und wusste, was mit der echten Stella geschehen war.

»Alles in Ordnung, Melinda?«
Jannik legte ihr die Hand auf den Rücken und sah sie prüfend an. Sophie nahm ihre Hand.
»Alles gut Frau Sieben?«
Melinda lächelte.
»Alles gut. Ihr könnt mich wieder loslassen! Spontane Kopfschmerzattacke. Geht schon wieder! Gebt mir noch mal 'n Stück von der Pizza.«
Sophie ging zur Beifahrertür und holte den Pizzakarton. Melinda war, als hätte sie tagelang nichts gegessen. Sie vertilgte den kalten Fladen mit wenigen Bissen. Dem Wandersmann zu lauschen, schien viel Energie zu kosten. Sie sah auf das Blatt mit den Notizen und musste feststellen, dass sie kein einziges Wort verstand. Später vielleicht. Sie faltete das Papier zusammen und ließ es in der Manteltasche verschwinden.
»Wollt ihr mit in meinen Garten kommen? Ich koche uns einen Tee und wir können uns beratschlagen.«
Jannik sah auf seine Uhr und war einverstanden. Sophie ebenfalls. Sie stiegen wieder ins Auto und fuhren los. Melinda wusste nicht, weshalb sie die beiden ins Vertrauen zog. Zwar hatte Sophie sich als pfiffig erwiesen und Melinda hatte sie mit ein paar Erkundungen beauftragt, doch inwieweit Jannik ihr eine Hilfe sein würde, stand noch in den Sternen. Er war jähzornig und schmiss mit Steinen um sich. Sophie tat dies ebenfalls, doch das war etwas anderes. Sie war eine Frau, der ein wenig Griffigkeit gut zu Gesicht stand. Im Gegenwind des Lebens musste sie schließlich in der Lage sein, sich zu behaupten.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt