Jan Dressler hatte einen Plan gefasst. Weshalb er noch wartete und nicht, so schnell es ging, losfuhr, wusste er nicht. Er dachte an sein Haus. Die zerbrochene Wohnzimmerscheibe. Vor ihm auf dem rissigen Holztisch lag der Gefrierbeutel mit dem Totenkopf-Stein. Unter normalen Umständen hätte er damit zur Polizei gehen müssen, was in seinem Fall vollkommen irrsinnig wäre. Er rief bei sich zu Hause an und hörte den Anrufbeantworter ab. Eine Nachricht des Generals war nicht dabei. Natürlich nicht. Das war nicht seine Art. Zu weich. Zu freundlich. Zu zivil. Die Autowerkstatt Hinrichs erinnerte ihn an die 2.177 Euro plus Mahngebühren und drohte mit weiteren Maßnahmen. Das Möbelhaus Eichner forderte nach wie vor 4.055 Euro und bat um Rückmeldung. Die Stimme seines Finanzberaters Herr Hinrichs, ein ehemaliger Schulfreund, klang angespannt. Er bat um sofortige Kontaktaufnahme. Jans Konto sei bis zum Knirschen überzogen.
Seine Lage war düster und die Zeit des Schönredens endgültig vorbei. Er hatte alles verloren. Seine Frau, seine Tochter, sein Ansehen und seine Selbstachtung. Er hatte sich die Hände schmutzig gemacht. Er litt unter Alpträumen. Seine Spielsucht hatte ihn ruiniert und hielt ihn trotzdem noch immer fest im Griff. Er lag vornübergebeugt auf dem Tisch, den Kopf auf den verschränkten Armen. Sein Blick galt dem blank geputzten Jagdgewehr neben der Tür. Er wusste wie man es handhaben musste, um einem Leben schnell und schmerzlos ein Ende zu bereiten. Fragte sich bloß, wessen Leben. Silva hob den Kopf und sah ihn an. Nein, noch wollte er nicht aufgeben. Ein letzter Hoffnungsschimmer glimmte noch in der Finsternis. Stellas Schatz, von dem sie ihm immer wieder in Andeutungen erzählt hatte. Geerbtes Geld, wie sie behauptete. Den Banken traute sie nicht. Bargeld unterm Kopfkissen war ihr lieber gewesen. Wobei das mit dem Kopfkissen offenbar symbolisch gemeint war. In ihrem Bett gab es kein Geld. Er hatte nachgesehen. Auch nicht in ihrem Schrank, unterm Teppich, im Sofa oder sonst wo. Im Grunde hatte Stella es sich selbst zuzuschreiben, wenn er sie etwas härter anfasste. Wer nicht reden will, muss fühlen. Ein schöner Spruch. Vielleicht würde er ihn, wenn diese ganze Sache hier vorbei war, auf weißes Tuch sticken, einrahmen und in die Küche hängen. Er würde ihn die ganze Zeit über im Blick behalten während er 500-Euro-Scheine zählte und feinsäuberlich zu Stapeln ordnete. Dazu ein kühles Bier und ein deftiges Schinkenbrot. Silva würde auch ein paar Happen bekommen und gemeinsam würden sie Pläne für die Zukunft schmieden. Es gab jemanden, der von Stellas Geld wusste. Es konnte gar nicht anders sein. Die schlaue Frau Kommissarin, die so verliebt geguckt hatte und die er so sehr hatte enttäuschen müssen. Ach, wie gut sein Manipulationstalent noch immer funktionierte! Er empfand nichts für sie. Rein gar nichts. Nur der Gedanke an das Geld ließ sein Herz hüpfen.
Er sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Draußen schrie ein Käuzchen. Normalerweise befiel ihn um diese Zeit schon eine bleierne Müdigkeit, doch heute war das anders. Er fühlte sich wach wie nie. Jan nahm das Gewehr und die olivfarbene Sturmhaube. Er hatte lange darüber nachgedacht, welche Verkleidung er wählen sollte, entschied sich am Ende aber für die einfachste und pragmatischste Lösung. Er trat vor den Spiegel. Jacke und Hose in Camouflage-Muster. Dunkle Stiefel. Die Nacht würde ihn förmlich verschlucken. Er würde unsichtbar für die Welt. Euphorie flutete seinen Körper. Dieselbe Euphorie, die er vor jeder Jagd verspürte. Er hockte sich zu Silva auf den Boden und kraulte ihr das Fell. »Bin bald wieder hier. Und dann beginnt das Leben für uns zwei noch einmal von vorn!« Die Hündin blickte ihm zweifelnd entgegen, schlich in den hinteren Teil der Hütte und rollte sich auf ihrer Decke zusammen. Jan nahm den Beutel mit dem Stofflappen und der Flasche vom Haken, schaltete das Licht aus, verließ die Hütte und verriegelte sie. Der Schnee lag schon wieder knöcheltief. Hätte es der Wettergott nicht besser mit ihm meinen können? Ein kalter Wind fegte auf die Lichtung. Der Wald knarzte, als wolle er ihn warnen. Jan blieb stehen und sah zum Waldrand hinüber. Für einen Augenblick meinte er Franky, seinen merkwürdigen Besucher von damals, dort hinter dem Flatterband stehen zu sehen. Er kam zurück, um sich seinen Rucksack zu holen. Aus dem Kopf wuchs ihm ein Hirschgeweih. Jan griff das Gewehr fester und machte einen Schritt nach vorn. Die Gestalt verschwand. Jan war sich nicht sicher, ob sie jemals dagewesen war.
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Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...