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Arndt fiel es zunehmend schwer, den schemenhaften Körper des Hirschmannes im Blick zu behalten. Die Straßen waren rutschig, die Sicht mehr als schlecht. Er musste langsam fahren und häufig abbremsen, weil jemand vor ihm auf der seifigen Fahrbahn ins Schleudern geriet. Erneut kamen ihm Zweifel. Wies dieses uralte Wesen ihm wirklich den Weg oder jagte er einer Wahnvorstellung hinterher? Tatsächlich keimte in ihm kurzzeitig der Gedanke, er könnte den Hirschmann mit seinem Schneetanz selbst beschworen haben. Noch immer haderte er mit seinem spontan auftretenden Drang, alles notieren, alles aufzeichnen zu müssen. Er war nicht mehr der alte. Das störte ihn. Seine zupackende Art hatte er wiedergefunden, doch dieses jämmerliche Gekritzel in abgegriffenen Skizzenbüchern und das durchgeknallte Geschabe auf verschneiten Parkplätzen ging ihm gegen den Strich. Besonders, wenn andere davon Wind bekamen oder, was deutlich peinlicher war, einen seiner Anfälle miterlebten. Zum Glück war das bisher nicht oft geschehen. Er zwang sich zur Ruhe. Verordnete sich Konzentration und befahl seinem Hirn, ihn mit ungebetenen Einmischungen nicht weiter zu behelligen.
Er fuhr am Krankenhaus vorbei und weiter hinauf zu Grambergs Gasthaus. Doch der Hirschmann wollte weiter. Den Forstweg hinauf, am Hochwasserbehälter vorbei, wo sie vor Wochen die falsche Stella gefunden hatten. Das Wildtiergatter stand zum Glück offen. So brauchte Arndt nicht anzuhalten. Der Schnee lag kniehoch und er hätte den Wagen wahrscheinlich nicht wieder in Gang gekriegt. Jemand war bereits vor ihm hier entlang gefahren. Die breiten Spuren halfen ihm, auf dem Weg zu bleiben und nicht seitlich in die Böschung zu rutschen. Irgendwann verschwanden die Reifenspuren links im Wald, ohne dass Arndt einen Grund dafür erkannte. Er schaltete das Radio ein, denn die Landschaft um ihn herum war einsam, kalt und beklemmend verwunschen. Unberührte Schneewehen, dick vereiste Kiefern mit tiefhängenden Zweigen. Eine in Watte gepackte Welt: Still. Die Luft anhaltend. Aus den Lautsprechern dudelte Money For Nothing von den Dire Straits, hin und wieder unterbrochen von einem tierischen Keuchen, das aus einer anderen Sphäre zu ihm drang. Das Gefühl für Zeit hatte er längst verloren und als er auf die digitale Anzeige blickte, erschrak er für einen Moment. Die vierzig Minuten waren ihm wie zehn vorgekommen. Hatte er zu Beginn seiner Hetzjagd nur geahnt, wen er verfolgte, so war er sich jetzt sicher. Jan Dressler hatte Melinda entführt und war mit ihr auf der Flucht. Er fuhr über eine Kuppe. Der Schneefall hatte inzwischen nachgelassen. Zur Rechten öffnete sich der Blick ins Tal. Tief verschneite Baumspitzen so weit das Auge reichte. Ein Wintertraum. Was fehlte waren Harmonie, Friede, Kerzenschein und Kekse. Arndt hielt den Wagen an und stellte den Motor aus. Ein Blick aufs Handy sagte ihm, dass sein Wunsch vielleicht noch in Erfüllung ging. Melinda hatte ihm geschrieben. Sie war bei Dresslers Jagdhütte. Das klang gut. Ihr letzter Satz jedoch schmälerte Arndts Hoffnung sogleich wieder.
Drei bewaffnete Typen belagern mich. Beeil dich!

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt