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Arndt rief Skagen im Präsidium an und trug ihm auf, das digitale Aktenarchiv nach Iris Brandt zu befragen. Zehn Minuten später rief Skagen zurück. Arndt stellte das Handy auf laut, so dass Melinda mithören konnte.
»Die Experte-Kollege sin sehr unfreundlich! Imme muss ich Kekse hole und Kaffe kochen! Das geht mir gehörig auf die Geist, gehörig!«
Arndt und Melinda drückten Skagen ihr Mitgefühl aus, doch konnten sie ihre Anspannung nicht verbergen.
»Und? Hast du was rausgefunden?«
Ein Schnalzen am Ende der Leitung. Dann Geschirrgeklapper und Stimmengemurmel.
»Gerade sind sie ausgeflogen. Sind bei Gramberg. Ein Moment der Ruhe und Entspannung ...«
Armer Skagen, dachte Melinda, da machte er sich auf den langen Weg ins ferne Deutschland und dann sowas. Welchen Eindruck von der deutschen Polizei würde er mit nach Schweden nehmen?
»Iris Brandt, geboren am 20.06.1986 in Bad Harzburg. 2005 bis 2010 Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen. Wurde Ende 2011 von den Eltern als vermisst gemeldet. Komische Sache. Diese Iris sieht aus wie unsere Stella ...!«
Melinda starrte Arndt ins Gesicht. An seinem Kinn hing ein Stück Nudel.
»Mensch, Arndt. Nina und Sonja. Iris und Stella ...«
»Du meinst ...?«
»Nina ist Iris und Sonja ist ...«
»Stella!« Arndt schlug sich auf die Brust. »Iris Brandt gibt sich als Stella Blume aus. Weshalb?«
»Weil sie sich verdammt ähnlich sehen. Und weil sie was ausgefressen haben. Gemeinsam mit Richard Harms haben sie 2011 einen Supermarkt überfallen. Richard wurde geschnappt und wanderte in den Bau. Iris und Stella konnten abhauen. Mit sehr viel Geld.«
»Von dem Richard nie etwas gesehen hat!«
»So ist es!«
Melinda konnte Arndt beim Denken zusehen, hörte wie sich die Puzzleteile in seinem Kopf sortierten und eins nach dem anderen einrasteten. »Wir sollten uns im Garten der beiden umsehen bevor uns die Experten hier alles zertrampeln! Und wir nehmen Zippo mit!«
Die grauen Knochen kamen ihr wieder in den Sinn. Jene, die Zippo angeschleppt hatte und seit Tagen in einer Kunststofftüte neben der Fallakte Stella in der Küchenbank lagen. Plötzlich war sich Melinda sicher, dass es sich keinesfalls um die Überreste eines Hundes handelte. Vor ihrem inneren Auge begann sich eine Geschichte aufzufalten. Eine Geschichte von Liebe und Verrat, Rache und Vergeltung. Arndt erzählte sie nichts davon. Noch nicht. Sie nahm die Taschenlampe vom Türhaken und steckte sie in die Hosentasche. Vor der Hütte rief sie noch einmal Skagen an während neuer Schnee aus einem dunkelgrauen Himmel schwebte. Der Winter war zurück und nahm den Garten und die gesamte Stadt erneut in eiskalte Geiselhaft.
»Ich möchte, dass du Richards Vater kontaktierst. Er hat einen Lebensmittelladen. Frage ihn nach dem Lolli-Papier und melde dich bitte sofort zurück wenn du was hast!«
Skagen versprach es. Er war Feuer und Flamme. Endlich wurde er einmal ernst genommen. Melinda interessierte sich für das Lolli-Papier! Damals im Wald hatte er gleich geahnt, dass es noch einmal wichtig werden würde! Original Gourmet Lollipops. Choose to Smile. Candy Apple. Made in the USA.

Es waren noch etwas mehr als zwei Stunden bis zu Beas Lesung. Arndt und Melinda wollten sie um keinen Preis verpassen und so mussten sie sich beeilen. Zwar wusste Melinda nicht wie sie es schaffen sollten, pünktlich um 19:00 Uhr gekämmt und gestriegelt in der Bücherei zu sitzen, erst recht wenn sich ihre, zugegebener Maßen grauselige Theorie, bewahrheitete, doch war in der jetzigen Situation alles besser, als die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen wie die Kollegen aus Hannover sich anschickten, die Lorbeeren für die Lösung des Falles einzusammeln. Melinda musste Zippo an die Leine legen, sonst wäre er ihr ausgebüchst, so aufgeregt war er. Er wusste genau, wohin die Reise ging. Schließlich war er schon mehr als einmal dort gewesen.
»Zippo, zeig uns die Knöchelchen! Wo sind die Knöchelchen?«
Melinda spürte Arndts fragenden Blick im Nacken.
»Was hast du vor, Melinda?«
Er trug noch immer die mit Soßenflecken besprenkelte Küchenschürze und hatte Mühe, mit Melinda Schritt zu halten. Kurz vor dem Gartentor kam er auf dem frischen Schnee ins Rutschen und wäre böse gestürzt, hätte Melinda ihn nicht am Arm gepackt.
»Schnapp dir den Spaten da vorn und dann los!« Sie deutete hinüber zu den knorrigen Obstbäumen, wo mehrere Gartengeräte an einem windschiefen Birnenbaum lehnten. Melinda wählte eine Hacke. Weder das Ehepaar Kessler, noch Nicki waren in ihren Gärten zu sehen. Gut so. Wenn Melinda mit ihrer Theorie recht behielt, dann war hier in wenigen Stunden die Hölle los.
Das Tor des verwilderten Gartens war verschlossen und der Zaun rechts und links so hoch, dass man nicht einfach darüber klettern konnte. Es musste jedoch ein Loch im Zaun geben, sonst wäre Zippo nicht in den Garten gelangt. Melinda ließ ihn kurz geschlossen von der Leine. Der Hund schien zu verstehen, was von ihm verlangt wurde. Kluges Kerlchen! Mit Karacho sprang er in das über den Zaun wuchernde Pflanzengewirr links der Eingangspforte und verschwand aus Melindas Blick. Sie hörte ihn schnüffeln. Äste brachen, Blätter raschelten während er sich unsichtbar weiter durch den Mini-Dschungel wühlte. Irgendwann verstummte das Hecheln, knackte kein Zweig mehr. Stille. Nur der Schnee wirbelte weiterhin auf ihre Köpfe, ihre Mäntel, ihre Schuhe. Wie zwei verlorengegangene Wächter standen Arndt und Melinda mit ihren Gartenwerkzeugen da und starrten ins undurchdringliche Grün.
»Er ist drin!« Arndt war zurück zum Tor gegangen und starrte durchs Metallgitter in den Garten, wo er gerade noch Zippos Hintern zwischen Kirschlorbeer und Buchsbaum verschwinden sah. Melinda legte Arndt die Hand auf den Rücken. »Also dann, Kollege!«

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt