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Nach dem dritten Versuch gab Arndt auf. Entweder schlief Melinda noch, ihr Akku war leer oder sie wollte ihn nicht sprechen. Er schrieb ihr eine Nachricht. Gut angekommen? Wie war die Nacht? Kater?
Als sie nach zwei Tassen Kaffee, einem Käsebrötchen aus der Kantine und einem kurzen Gespräch mit Bullerjahn noch immer nicht geantwortet hatte, begann er, sich zu sorgen.
Heute Morgen nach dem Aufstehen hatte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder nach seinem Skizzenbuch gegriffen und eine Zeichnung angefertigt. Spritzer seines Milchkaffees hatten ihm als Kolorierung gedient. Jetzt lag das Buch aufgeschlagen neben dem Brötchenteller auf seinem Schreibtisch. Er hätte heute nicht hier sein müssen. Es war Samstag. Er hatte keinen Dienst. Die Illustration war spontan entstanden. Sie stellte ein abstraktes Motiv dar, wie so viele seiner Arbeiten. Glaubte er zumindest. Melinda hatte ihm bewiesen, dass man durch das Drehen, Falten und Collagieren der Zeichnungen auf scheinbar magische Weise zu konkreten Darstellungen gelangen konnte. Arndt dachte an die wilden Kritzeleien, die er während der Suche nach dem Brandstifter angefertigt hatte. Am Ende hatten sie ihnen die Sache mit den Kopfhörern verraten und sie auf Sebastian Winklers Spur geführt. Zufall? Wahrscheinlich.

Wenn er seine Kaffeezeichnung an dieser Stelle verdeckte, sie um neunzig Grad drehte, hier faltete, dann ... Arndt blickte auf den Kopf eines Hundes. Zippo! Hastig zog er seinen Mantel von der Stuhllehne, stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund und lief zu seinem Wagen.
Es schneite wieder. Trotz der schlechten Sicht erkannte Arndt schon von weitem die Fahrzeuge der Spurensicherung, welche auf dem Trampelpfad vor den Kleingärten parkten. Helmholtz hatte die gewünschte Verstärkung erhalten. Arndt sah das große weiße Zelt zwischen der wuchernden Vegetation thronen. Er zählte mindestens sechs Personen, die in Schutzanzügen dort unten herumliefen. Zwei Personen waren dunkel gekleidet. Uniformen. Perfekt sitzende Frisuren. Glänzende Gesichter. Die Experten aus Hannover waren vor Ort. Ob sie die Zusammenhänge bereits kannten? Arndt bezweifelte es. So fix waren sie nicht. Er stieß sich von seinem Wagen ab und folgte dem verschneiten Weg hinunter zu den Gärten. Schon aus der Ferne sah er das rotweiße Flatterband, welches sich großzügig um das gesamte Gelände zog. Arndt duckte sich hindurch, kroch zu Melindas Tor, drückte es auf und huschte in den Garten. Hinter einem Haselnussstrauch ging er in Deckung und sah zum Häuschen hinüber. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch, trotz der frostigen Temperaturen. War Melinda nicht zu Hause? Ihr Rad lehnte doch am Zaun und ihr roter Wagen hatte oben auf dem Parkplatz gestanden. Wahrscheinlich schlief sie noch. Sie hatte gestern wirklich phänomenal gebechert! Er dachte an seine Zeichnung. Wo war Zippo? Natürlich bei Melinda, wo denn sonst? Arndt begann zu zweifeln. Weshalb war er hergekommen? Was hatte er sich dabei gedacht? Er hatte nichts gedacht. Sein Bauchgefühl hatte ihn hergeführt. Sein Bauchgefühl, die Zeichnung und die Sorge um Melinda. Er schlug sich auf die Wange. Zaghaft, dann noch einmal fester. Haltung wahren, Arndt Holler! Nicht weich werden! Du bist ein Kerl, keine Memme! Halte dich an Fakten! In deinem Job zählt nur, was du siehst, was du anfassen kannst! Sein Blick glitt über den frisch gefallenen Schnee. Spuren. Viele Spuren. Wie schlecht war es ihr heute Nacht ergangen? Wie lange hatte sie gebraucht, um ihre Hütte zu finden? Das Spurenmuster deutete auf eine lange Suche. Arndt ging zum Haus und besah sich die Tür. Nur eins der vier Schlösser war ordnungsgemäß geöffnet worden, die drei anderen baumelten herausgerissen an einer verbogenen Schraube. Die Tür war angelehnt. Arndt öffnete sie und streckte den Kopf hinein.

»Melinda?« Nichts. Eine verlassene Hütte. Keine Melinda. Was war hier los? Gedankenversunken starrte er in die Tiefe des Gartens. Kälte. Wind. Schnee. Winterstarre. Arndt sehnte sich nach Wärme, nach dem Geruch von Sonnencreme, nach einem Drink am Strand. Er wollte ans Meer. Er benötigte eine Auszeit. Er brauchte Urlaub. Ein wenig beneidete er Melinda für ihre Entscheidung, einen Schnitt zu machen und planlos etwas Neues zu probieren. Für einen solchen Schritt hatte er wahrscheinlich zu viel Schiss in der Hose.
Er kniete sich hinunter und betrachtete die Spuren genauer. Erst jetzt erkannte er, dass sie unterschiedlich groß waren. Die kleinen stammten von Melinda, da war er sich sicher, doch die großen, von wem stammten die? Jemand war heute Nacht bei Melinda gewesen. Arndt spürte wie sich etwas in seinem Brustkorb zusammenzog. Hatte sie jemanden kennengelernt? Hatte derjenige sie heute Nacht abgeholt, weil es ihr so dreckig ging? Arndt begann, sich Vorwürfe zu machen. Er hätte sie, auch gegen ihren Willen, nach Hause begleiten müssen.
Die Spuren beschränkten sich nicht auf die unmittelbare Umgebung der Hütte, sie führten weiter hinein in den Garten, und zwar ausschließlich die großen, nicht die kleinen Spuren! Arndt war kein Fährtenleser, doch Schuhabdrücke hinterließen Zeichen, welche sich zu Linien ergänzten und komplexe Muster bildeten. Und mit Zeichen und Linien kannte er sich aus. Seine Hand wischte durch die Luft, zog die Linien nach, verfolgte die Muster. Schließlich war er sich sicher. Jemand hatte Melinda aufgelauert. Sie hatte nicht freiwillig den Garten verlassen. Er dachte an Sigi Helmholtz, der ein paar Gärten weiter Stellas Gebeine aus der Erde grub. Ihn hätte er fragen können, er hätte Abdrücke der Spuren anfertigen, sie vermessen und fotografieren, sichern und katalogisieren, Beweismaterial sicherstellen können, doch dafür fehlte die Zeit. Wo war Melinda? Wer hatte es auf sie abgesehen? Arndt beschlich eine Ahnung, doch war sie noch nicht fassbar. Der Hund. Er hatte einen Hund gezeichnet. Zippo. Auch ihm musste etwas zugestoßen sein. Zippo hatte Kontakt zu im aufgenommen. Er war in seine Hand, von dort in seinen Zeichenstift und sein Skizzenbuch gekrochen. Das musste etwas bedeuten! 

Arndt sah sich um. Lauschte hinaus in das Schneetreiben. Nichts. Er folgte der Spur in den Garten. Hindurch zwischen Obstbäumen, am vereisten Teich mit seinem vertrockneten Schilf und der Bank mit der abgebrochenen Lehne vorbei. Links ragten zwei Findlinge aus dem Boden, die Arndt an Grabsteine erinnerten. Er trat näher heran. Goldene Buchstaben auf Harzer Granit. Rex. Brutus. Das waren tatsächlich Grabsteine! Jemand hatte hier seine Hunde zur letzten Ruhe gebettet. Arndt lief ein Schauer über den Rücken. 

»Zippo?« Dann etwas lauter: »Zippo?« Er arbeitete sich nach rechts durch die Büsche, immer am Zaun entlang. Eine verrostete Rolle Zaundraht versperrte ihm den Weg. Er stieß gegen einen alten Blecheimer und trat auf ausrangierte Blumentöpfe. »Zippo?« Die Dornen einer Brombeerpflanze verhakten sich in seiner Hose. Er benötigte einige Zeit, um sich zu befreien. Auf die Spuren im Schnee achtete er schon lange nicht mehr. Den leblosen Haufen entdeckte er, als er schon nicht mehr damit rechnete und bereits auf dem Weg zurück zum Gartentor war. Für einen Schockmoment dachte er, er hätte Melinda gefunden. Dann sah er das Fell. Weiß und schwarz meliert. Er sah die dunkle Schnauze, aus der Blut sickerte, die schlaffen Lefzen, die heraushängende, blutige Zunge, die toten Augen, welche in die Unendlichkeit zu blicken schienen. Zippo. Er hatte ihn gefunden. Arndts Hand wanderte zum Handy. Er musste Cora Grimme, die Tierärztin verständigen. Sie würde Zippo helfen, in die Welt der Lebenden zurück zu gelangen. Mit Sicherheit. Ganz bestimmt. Gleichzeitig wusste er, dass kein Arzt der Welt dies vermochte. Zippo war tot. 

Arndt dachte an Melinda. Es würde ihr das Herz brechen. Zippo war seinem gewalttätigen Halter entkommen, nur, um am Ende in diesem Garten jämmerlich zu krepieren. Was war passiert? Arndt glaubte nicht an einen natürlichen Tod. War Zippo erschossen worden? Hatte ihn jemand vergiftet? Das Blut, welches aus Nase, Maul und Hinterteil lief, deutete darauf hin. Arndt tippte auf Rattengift. Damit hatte er zu Beginn seiner Laufbahn schon einmal zu tun gehabt, als sie einen Katzenmörder jagten, der seine Opfer mit vergifteten Leckerlis zur Strecke brachte. Damals hatte er lernen müssen, dass Menschen, die Tiere umbrachten, auch vor Gewalt gegen Menschen nicht zurückschreckten. Kurz bevor sie den Katzenmörder in seinem Wohnhaus festnahmen, schoss er seiner Frau und Arndts Kollegen mit einer Jagdpistole ins Bein.

Arndt durfte keine Zeit verlieren. Er musste Melinda finden.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt