Epilog

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Fünf Tage vor Weihnachten fuhren Melinda und Arndt hinauf zum Sösestausee. Am Vorbecken bei Riefensbeek parkten sie den Wagen und stiegen die bewaldeten Hänge zur Heidenhöhle hinauf. In Arndts Rucksack befand sich ein Seitenschneider und ein Brecheisen, in Melindas Manteltasche Hermann Eberts Tagebuch und eine Stabtaschenlampe. Auf dem Schlitten, den sie zog, lag der in eine braune Decke gewickelte Leichnam Zippos.
»Ebert hat deinen Vater aus Versehen erschossen? Eine merkwürdige Geschichte. Wirklich merkwürdig!« Arndt steckte seine Nase in ein Taschentuch und schnaubte kräftig. Er wusste noch immer nicht genau, was Melinda hier oben vorhatte. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, also war er mit ihr gekommen.
»Er hat ihn mit einem Wilddieb verwechselt. Das war noch vor seiner Zeit als Präsidiumsleiter. Steht in seinem Tagebuch.« Melinda klopfte mit der Hand auf ihre Manteltasche. »Um seinen Irrtum zu vertuschen, hat er ihn in der Höhle versteckt. Scheint ein besonderer Ort zu sein ...!«
Arndt nickte. »Sie so aus. Habe in den letzten Tagen mal ein bisschen recherchiert ...«
»Und?«
»Erstens ist die Höhle uralt, zweitens eine heidnische Stätte, drittens gefürchtet und gemieden und viertens einsturzgefährdet.«
Melinda grinste ihn an. »Prima! Vier Argumente, die dafür sprechen, schnellstens ihre Bekanntschaft zu machen!«
»In den vergangenen Jahren waren immer mal wieder Archäologen und Höhlenforscher dort drin. Für alle anderen ist der Zugang verboten.«
»Deshalb, lieber Arndt, haben wir ja Werkzeug dabei.«
Arndt stöhnte. Ihm war nicht wohl bei der Sache. Lieber würde er bei Bullerjahn und Bea im Wohnzimmer sitzen, Glühwein trinken und Spekulatius knabbern, als in dieser Schweinekälte mit Melinda durch den Wald zu stapfen. Vielleicht hatten sie Glück und konnten die Angelegenheit schnell hinter sich bringen. Bea hatte gesagt, dass manche Dinge Zeit bräuchten und dass sie mit dem Glühwein auf sie warten würden.
»Und wenn wir ihn gefunden haben, rufen wir Helmholz an oder wie hast du dir das vorgestellt?«
Melinda zog die Augenbrauen hoch. Arndt stellte sich wie ein Kleinkind an. Okay, es stimmte, dass sie ihn nur oberflächlich über ihr Vorhaben informiert hatte, doch er konnte sich ruhig am Riemen reißen, trotz Schniefnase. Schließlich warteten am Ende heißer Punsch und selbstgebackene Kekse bei Bullerjahn und Bea auf sie. Wenn das nicht Motivation genug war!
Die Höhle befand sich am Ende einer schmalen Klamm. Da der Schnee hier nicht so hoch lag, kamen sie gut voran. Ab und zu versperrte ihnen einen herabgestürzter Baum, ein Gesteinsbrocken oder ein stacheliger Brombeerbusch den Weg. Dann mussten sie springen, im Storchenschritt gehen oder klettern und den Schlitten mit Zippo darauf über die Hindernisse heben. »Was hast du vor, wenn das hier vorbei ist?« Arndt zog ein neues Taschentuch aus seinem Mantel und schnäuzte hinein. Melinda blieb stehen und drehte sich zu ihm herum. Darüber hatte sie sich in den vergangenen Tagen auch schon den Kopf zerbrochen, war jedoch zu keinem Ergebnis gekommen. Sie wusste bloß, dass sie ein Bett brauchte, wenn sie in ihrem Gartenhaus bleiben wollte, und dass sie sich um eine regelmäßige Waschgelegenheit kümmern musste. Der Winter zeigte sich nicht gerade von seiner milden Seite und er würde, wie Bea ihr versichert hatte, in dieser Gegend bis mindestens Anfang März andauern. Vielleicht war die Hütte keine optimale Unterkunft für alle Zeiten. Sie besaß ja jetzt ein Haus und eine Eigentumswohnung. Leider befanden diese sich weit weg von hier. Und sie hatte diese Wälder, diese Berge und die Menschen, die hier lebten, schätzen gelernt, auch wenn sie eine solche Entwicklung noch vor wenigen Wochen für völlig unmöglich gehalten hatte.
Der Trampelpfad endete vor einer mit knorrigen Büschen bewachsenen Felswand. Das Ende der Welt, dachte Melinda. Oder der Übergang zu etwas Neuem, etwas gänzlich Unbekanntem. Sie hatte versucht, an Kartenmaterial für die Höhle zu gelangen, doch weder die Stadtbücherei, noch das Archiv, und schon gar nicht das Internet hatten ihr diesbezüglich weiterhelfen können. Es war, als existierte diese Höhle nicht oder als würde sie von den Lebenden bewusst ignoriert. Man las und hörte ja immer wieder von Menschen, die sich unvorbereitet in Höhlen wagten und nicht wieder herausfanden. Möglich, dass es ihr und Arndt genauso ergehen würde, doch sie glaubte nicht daran. Ihr Vater, der Schamane, würde sie zu sich führen und ihnen auch den Weg wieder hinausweisen, davon war sie felsenfest überzeugt.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt