Bildete sie sich das nur ein, oder hörte sie Helmholtz wirklich bis hierher auf seinem Kaugummi herum schmatzen? Der kleine Generator für die Lampen surrte leise, Kerner und Aust hockten noch immer auf ihrem Stein und unterhielten sich im Flüsterton miteinander, ab und zu knackte es im Dunkeln außerhalb der Manege.
„Ich lasse dir gern den Vortritt!"
Bullerjahn duzte sie! Wahrscheinlich war das hier genau der richtige Zeitpunkt auf das Du umzusteigen. Die erste gemeinsame Leiche. Die erste miteinander durchstandene, schlaflose Nacht.
„Tu dir bitte keinen Zwang an!"
Konnte sie das noch, einen leblosen Menschen, von dem man weder das Gesicht, noch das Geschlecht, noch den allgemeinen Frischezustand kannte, umdrehen, ihm die Kapuze vom Kopf nehmen, ihn in aller Ausführlichkeit untersuchen, ohne sich auf die duftige Walderde zu erbrechen? Sie musste, verdammt sie musste. Ob sie es wollte oder nicht!
Behutsam griff sie die Kapuze und zog sie langsam zurück. Hellblondes Haar, zu einem dicken Zopf geflochten, kleine Ohren, aus denen sich blasse Maden windeten. Oh mein Gott, was war das für eine Welt!
Bullerjahn berührte sie an der Schulter.
„Alles in Ordnung?"
Was für eine Frage! Nichts war in Ordnung, absolut gar nichts! Schon seit längerem nicht mehr. Und überhaupt, was war das hier, ein Test?
Mit beiden Händen griff sie den Kopf der toten Frau und zog ihn vorsichtig aus dem Korb. Melinda blickte in das dunkel verfärbte Gesicht einer jungen Frau, die einmal hübsch gewesen sein musste. Jetzt war es aufgedunsen und von Löchern entstellt. Neben sich hörte sie Bullerjahn schwer atmen.
„Unser lieber Freund Gramberg hat wirklich ein Problem!"
„Warum? Was wollte er vorhin von dir?"
„Dressler hat ihn informiert nachdem er im Präsidium angerufen hat."
„Gramberg kennt das Opfer?"
„Seine Köchin. Stella war seine Köchin. Jeder hier kannte sie."
Helmholtz machte einen langen Hals. Nicht mal beim Sprechen unterbrach er sein Geschmatze.
„Und, was sagen die Frau Kommissarin und der Herr Kommissar?"
Für Melinda schien die Sache klar.
„Tod durch Erdrosselung."
Melinda betrachtete den Hals. Die Würgemale waren unübersehbar.
„Handarbeit!"
Sie blickte Bullerjahn an. Musterte seinen Dreitagebart, seine verwuschelten Haare, das knitterige Hemd. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sich schon länger kein Zigarillo mehr angezündet hatte.
„Was meinst du, wie lange liegt sie hier schon?"
Bullerjahn blickte auf die Leiche hinab.
„Sag du es mir!"
Sie fühlte sich in die Zeit ihres Studiums zurück versetzt, wo jede Frage, jede Antwort, bepunktet, benotet, gewichtet wurden. Aber Bullerjahn meinte es sicher nur gut. Er stand auf ihrer Seite. Er wollte, dass sie blieb, hatte wahrscheinlich mehr als nur ein gutes Wort bei Christiansen für sie und Arndt eingelegt.
„Maden der Schmeißfliege und des Buckelkäfers, Zeit zwischen Eiablage und Schlüpfzeit bei Temperaturen über 15 Grad und feuchtem Klima etwa vier Tage. Verpuppungen sehe ich au den ersten Blick keine. Zustand der Rotkappen, Steinpilze und Maronenröhrlinge: desaströs. Unterm Strich würde ich sagen, dass sie seit etwa fünf Tagen hier liegt. Plus, minus ein Tag."
Sie staunte über sich selbst. Das Wissen, die Fakten waren einfach so aus ihr herausgesprudelt. Ob alles davon korrekt war, wusste sie nicht, aber es bestand Hoffnung. Der Wandersmann konnte zufrieden mit ihr sein.
Bullerjahn nickte. Er schien einverstanden mit ihrer Analyse.
„Helmholtz soll Bodenproben nehmen. Hat er Gas, um die Maden einzuschläfern?"
„Soweit ich weiß ist er kein forensischer Entomologe! Er hat die Standards drauf, die wir hier bisher gebraucht haben, mehr nicht."
Vorsichtig ließ Melinda den Kopf der toten Frau zurück in den Korb fallen, einem sehr schönen Korb, wie sie fand, bei dem sie unwillkürlich an Rotkäppchen denken musste, die ihrer Großmutter lauter Köstlichkeiten durch den tiefen, dunklen Wald brachte und dem Bösen begegnete. Auch die junge Frau war dem Bösen begegnet. Es schien Melinda als wäre es noch immer hier, außerhalb des Lichtkreises, verborgen im Dunkeln der Baumwipfel, auf einem Ast hockend, hinter einem Kieferstamm verborgen, am nächtlichen Himmel kreisend.
Es war spät, und Melinda spürte deutlich ihre Müdigkeit. Ihr Denken begann Purzelbäume zu machen, die Informationen erreichten sie nur noch verzögert.
Bullerjahn schlug ihr vor, den gesamten Fundort abzugehen. Helmholtz hatte an diversen Stellen Nummerntafeln aufgestellt, bei denen Melinda nicht immer klar war, was genau er dort gefunden hatte. Umgeknickte Grashalme? Zigarettenstummel? Fußabdrücke?
Das Böse hinterließ keine Spuren. Es kam stets unerwartet, auf leisen Sohlen. Ebenso unerwartet verschwand es auch wieder, kroch zurück in sein Versteck. Heimlich. Leise. Unendlich listig.
Junge, hübsche Stella, gehüllt in eine Leinenrobe, die dir das Aussehen eines Mönches verlieh, was hast du getan, wo bist du gewesen? Wer soll dir glauben, dass du bloß Pilze für die Küche des Waldgasthauses gesucht hast? Jeder kannte dich, was soll das heißen? Warst du ein besonders freundlicher, herzlicher und offener Mensch, den man einfach gern haben musste? Warst du großzügig und spendabel? Oder warst du den Männern gegenüber besonders offen, vielleicht auch den Frauen? Oder beiden? Stella, Stella, du mein Rätsel!
Wie gern hätte Melinda jetzt Arndt und sein Skizzenbuch hier gehabt. Wer weiß, welche Eingebungen ihm die nächtlichen Winde zugetragen hätten!
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Pilzgericht (Krimi)
Детектив / ТриллерDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...