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„Wann kommen die Kollegen von der Mordkommission und schmeißen uns hier raus?"

Bullerjahn sah Melinda belustigt an. Das ärgerte sie.

„Welche Mordkommission? Wir sind die Mordkommission, und sonst niemand!"

Sie verstand nicht. Hatte Bullerjahn nicht von Auslagerung, Verkleinerung, Abgabe der Zuständigkeit gesprochen, weil es in Osterode so friedlich zuging?

Ihr Gesicht musste sie verraten haben.

„Wir haben ja jetzt zwei hochkarätige Nachwuchskräfte ... Aber warte doch das Gespräch mit Christiansen ab!"

Er hielt sie hin wie ein kleines Mädchen. Melinda spürte wie ihr Ärger größer wurde.

„Heißt das, wir sind an Bord? Wir bleiben hier? Als vollwertige Kollegen?"

Bullerjahn reagierte nicht auf ihre Frage und wandte sich stattdessen wieder Gramberg zu. Ein irrwitziger Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Hatte der Wandersmann ein gutes Wort für sie eingelegt? Hatte er sich ihre Wohnung angesehen, um sich davon zu überzeugen, dass sie es Wert waren, dass sie es konnten, dass sie dem Bösen ein ebenbürtiger Gegner waren? Was hatte er gesehen? Was hatte ihn interessiert, in welchen Gegenständen hatte er gelesen? Und was? Melinda schluckte. Ihre eigenen Gedanken erschreckten sie zu Tode. In welchen Wahn schlitterte sie da hinein? Wenn sie nachher zurück in die Wohnung kam, wenn alles an seinem Platz war, das Sofa nicht verschoben, der Teppich nicht wellig, das Geschirr in der Küche nicht zerschlagen, Zippo unversehrt, keine Tannenadeln im Treppenhaus, keine Zweige im Hausflur, was sollte sie dann tun? Hinunter zum Fluß gehen und sich ertränken? Allem hier den Rücken zukehren und sich in einer dunklen Höhle im Wald verstecken, um dort auf das Ende zu warten? Auf das Ende von allem?

Doch sie hatte ja des Wandermanns Botschaft, die sie auf dem Küchentisch gefunden hatte. Melinda griff in ihre Jackentasche und zog den zusammengefalteten Zettel heraus. Er war echt. Er war existent. Sie konnte die raue Oberfläche des Papiers fühlen, sah die handgeschriebenen Zeilen.

Lösungen müssen sich nicht in jedem Fall auf diejenigen Probleme beziehen, die sie lösen sollen.

Zu spät bemerkte sie Bullerjahns neugierigen Blick.

„Was ist das?"

Hastig stopfte Melinda das Blatt zurück in ihre Jacke. Sie wollte ihm nichts davon erzählen, sie wollte nicht, dass er dachte, sie sei verrückt. Statt dessen vertröstete sie ihn auf später.

„Hat mit dem Fall nichts zu tun!"

Bullerjahn hakte nicht weiter nach, wofür Melinda ihm sehr dankbar war.

Gramberg wand sich.

„Bin müde!"

Bullerjahn redete auf ihn ein. Nur ein paar Minuten noch. Er müsse da noch etwas wissen, dann lasse er ihn für heute in Ruhe.

„Sie hatte ein Zimmer bei dir gemietet. Das müssen wir uns ansehen, Erik. Jetzt gleich."

Gramberg erschrak. Nur ganz leicht. Beinahe nicht zu merken. Aber Melinda hatte es gesehen. Was fürchtete er?

„Sie hatte ja niemanden. Bloß ihre alte Mutter. Aber die ist im Heim. Sieht kaum noch, hört nichts mehr. Stella wusste wo die besten Pilze standen. Nur sie. Keine sonst. Ich habe immer gesagt: nimm jemanden mit, geh nicht allein. Nimm den Martin mit, den Koch, oder die Greta, die Köchin. Aber sie wollte nicht. Sie wollte einfach nicht! Und jetzt? Oh, mein Gott!"

Gramberg fiel mit dem Oberkörper auf die Tischplatte und begann hemmungslos zu schluchzen. Bullerjahns Gesichtsausdruck beschrieb was Melinda ohnehin dachte: hier war nichts mehr zu holen. Morgen vielleicht, wenn Gramberg ausgeschlafen und den größten Schock überwunden hatte. Sie würden einfach noch mal wiederkommen sobald Melinda das Gespräch mit Christiansen hinter sich gebracht hatte.

Sie spürte wie auch ihr die Müdigkeit allmählich in die Knochen kroch. Lange hielt sie nicht mehr durch. Da Bullerjahn keine Anstalten machte, sich zu erheben um nach Stellas Zimmer zu sehen, stattdessen näher an Gramberg heranrückte und ihm tröstend den Arm auf den Rücken legte, machte Melinda sich allein auf die Suche. Neben der Theke führte eine Treppe hinauf ins Obergeschoss. Die Wände zierten gerahmte Schwarzweißfotos. Die Marktkirche. Die Schlossruine auf dem Hauptfriedhof. Die Schachtruppvilla. Das ehemalige Knabengymnasium, in dem sich jetzt das Polizeipräsidium befand. Melinda blieb stehen. Wie merkwürdig das doch war. Orte veränderten sich, wurden einer neuen Deutung zugeführt, mit neuen Menschen, neuen Aufgaben, aber irgendetwas blieb. In den Wänden, in jedem Stein. Ein Hauch des Gewesenen. Nichts verschwand vollständig und für immer. Melinda wusste das nur zu genau. Weil sie es hörte. Weil sie es fühlte, schmeckte. Weil sie sah, was andere nicht sahen.

Unten im Gastraum hörte sie noch immer Gramberg vor sich hin wimmern, hörte Bullerjahns beruhigende Worte.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt