Es war bereits Mitternacht. Seit mehr als einer Stunde schon saß Melinda nachdenklich am Tisch und ließ die Erlebnisse der letzten Stunden Revue passieren. Was hatte Jan von ihr gewollt? Woher stammten seine Verletzungen wirklich? Nicht bloß seine Stirn war verbunden gewesen, auch Hüfte und Rücken schienen etwas abbekommen zu haben, so steif und ungelenk wie er in die Hütte gewankt war. Wenn die Sache mit der zerbrochenen Fensterscheibe eine Lüge war, was war dann passiert? Was hatte er zu verbergen?
Melindas Blick wanderte durch die Hütte. Von ihren Füßen zum Bücherboard zum Fenster, von dort zur Küchenzeile und dem Vorratsregal. Ihr fiel auf, dass ein paar der Gläser und Konserven verschoben worden waren. Zwischen der Ananas und der Erdbeermarmelade klaffte eine Lücke. Die Bücher an der Wand standen schief und standen kurz davor herunterzufallen. Wie angepiekst sprang sie hoch und riss den Spülschrank auf. Die Tüte mit der Beretta war noch da. Und trotzdem, das mulmige Gefühl blieb und trieb sie zur Küchenbank. Melinda öffnete den Deckel und erstarrte. Das Bettzeug war durchwühlt worden. Melinda riss Decke und Kopfkissen heraus und atmete erleichtert auf. Die Fallakte lag noch an ihrem Platz. Jan hatte sie nicht gefunden. Melinda packte der Zorn. Kaum zu fassen, wie dreist Jan war! Wickelte sie um den Finger, machte ihr schöne Augen und nutzte ihre Gutmütigkeit aus, indem er ihre Gartenhütte durchwühlte. Was konnte er gesucht haben? Die Fallakte? Nein, unmöglich! Geld? Vielleicht, doch da war er bei Melinda an der falschen Adresse. Sie lief durch die Hütte und drehte jeden Gegenstand um, öffnete jede Tür und klopfte jede Stelle an Boden und Wänden ab. Als sie schließlich vor dem Wandboard stand und die Bücher wieder aufrichtete, wurde ihr klar was fehlte. Ihr schwarzes Notizbuch, in dem sie Jans Befragung protokolliert hatte. Die Befragung, zu der sie noch immer keinen Bericht geschrieben hatte. Schweinehund! Melinda versuchte sich zu erinnern, ob sie in dem Buch weitere wichtige Informationen notiert hatte, doch sie hatte es erst vor wenigen Wochen gekauft war und soweit sie sich erinnerte nur die ersten zehn Seiten beschrieben. Mit den hastig hingeworfenen Stichwörtern in ihrer ungelenken Schrift würde Jan nichts anfangen können. Nein, das Notizbuch keine weiteren Aufzeichnungen zu irgendwelchen Ermittlungsarbeiten. Schwein gehabt!Was sollte sie tun? Es dabei bewenden lassen? Ausgeschlossen. So einfach würde Jan ihr nicht davonkommen. Befände sie sich jetzt in ihrem Büro, vor den Stellwänden mit den Ermittlungsergebnissen, sie würde die Karte mit dem Namen Jan Dressler ganz nach oben hängen, mit einem dicken roten Filzstift umkreisen und ein paar weitere Stecknadeln hineinjagen. Sie konnte in ihren Wagen steigen und zu ihm fahren, ihn zur Rede stellen, doch dann fiel ihr ein, dass tatsächlich etwas geschehen sein konnte, das ihn davon abhielt, in seinem Haus zu übernachten und er sich ein Versteck in einem Hotel oder einer Pension gesucht hatte. Es gab in Osterode nur wenige Hotels aber mehr als zehnmal so viele Privatpensionen. Es würde eine Ewigkeit dauern, ihn ausfindig zu machen. Die andere Möglichkeit bestand darin, dass gar nichts geschehen war, Jan kein Holz gehackt, die Axt nicht auseinandergeflogen, keine Scheibe zu Bruch gegangen war und er sich keine Verletzung am Kopf zugezogen hatte. Verband, Mütze, der humpelnde Gang, das schmerzverzerrte Gesicht, alles nur Show, alles nur Staffage, um sich bei ihr einzuschleichen.
Grübelnd tigerte Melinda durch die Gartenhütte. Von der Bank zur Küchenzeile und wieder zurück, dann zum Bücherboard und zum Vorratsregal, zum Ausgang, Tür auf, drei tiefe Luftzüge, Kälte, Nässe, es taute, Tür wieder zu und zurück zur Bank. Zwei weitere Tabletten, Schlaftabletten wie sie glaubte, dann zurück unter die Decke, das Kissen gerichtet und Augen zu. Sie hatte sich entschieden. Sie würde Jan nicht hinterherfahren, ihn nicht suchen und zur Rede stellen. Sollte er doch glauben, dass er erfolgreich gewesen und sein Diebstahl unbemerkt geblieben war. Wie ein Phantom wollte Melinda sich zu gegebener Zeit an ihn heranschleichen und zuschlagen, bevor er auch nur »A« sagen konnte.Es war schon nach zehn als Melinda die Augen öffnete. Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und tauchten Boden, Tisch und Bettdecke in ein goldenes Licht. Der Kopf tat ihr weh und sie nahm sich vor, in Zukunft genauer hinzusehen, welche Pillen sie wann schluckte und die Packungsbeilagen gründlich zu studieren. Vielleicht war das ein Anfang. Sie strampelte die Decke weg, schlich zum Herd und setzte Wasser auf. Der Kaffee war fast alle, nur noch zwei Filter steckten in der Packung. Melinda sah aus dem Fenster. Das Licht blendete sie. Tropfen an der Scheibe. Rinnsale aus Schmelzwasser. Es taute. Ungläubig befühlte sie die wulstigen Ringe unter ihren Augen. Sie wusste, dass sie etwas Schreckliches geträumt hatte, erinnerte sich jedoch an nichts. Das Wasser begann zu kochen.
Eine plötzliche Bewegung im Garten ließ sie zusammenzucken. Herr Kessler, der Nachbar, kam durchs Gartentor getrippelt. Was wollte der denn hier? Bevor Melinda sich verstecken konnte, hatte er sie bereits am Fenster stehen sehen und winkte ihr aufgeregt mit einer Zeitung zu. Die Wangen des alten Mannes glühten. Sein Blick verriet höchste Erregung. Durch die Holzwände klang seine Stimme seltsam dumpf. Melinda zog sich einen Pullover über, strich die Haare notdürftig glatt und öffnete die Tür. Sich bloß nicht durch unnötige Pampigkeit verdächtig machen.
»Frau Zucker!«
»Morgen Herr Kessler! Schon auf den Beinen?«
Die Zeitung war jetzt ganz nah vor ihrem Gesicht. Kessler war völlig außer sich. Melinda fiel auf, das sein rechter Schuh nicht zugebunden war. Die Schnürsenkel dümpelten im Schneematsch wie fallengelassene Vollkornspaghetti.
»Meine Frau sagt immer, lass doch die Leute in Ruhe, aber nee, das müssen Sie sich angucken! Sie als Schriftstellerin interessiert doch sowas bestimmt!«
Kessler stellte sich neben sie und faltete hastig die Zeitung auseinander.
»Sehen Sie! Hier!«
Das Gesicht der falschen Stella. Trotz Lissis Bemühungen fahl, technisch, frappierend unecht. Daneben ein weiteres, größeres Bild. Drei perfekt frisierte und adrett gekleidete Polizeibeamte hinter einem Konferenztisch, eine Frau, zwei Männer, zwischen ihnen die aufgedonnerte Lena Christiansen. Das Lächeln eines Posterstars. Mikrofone. Hinter der Szenerie ein mächtiges Display, darauf der goldene Polizeistern mit Niedersachsenross. Über allem eine mächtige Schlagzeile.Tote im Stadtwald. Ermittlungen nehmen Fahrt auf.
»Kann ich die haben?«
Herr Kessler sah sie entgeistert an.
»Habe sie gerade erst aus dem Briefkasten genommen, kurz bevor wir hergefahren sind.«
Er faltete die Zeitung feinsäuberlich zusammen. Kante auf Kante, Ecke auf Ecke.
»Sie können Sie haben wenn ...«
Melinda winkte ab. Sie konnte sich die Ausgabe später selbst kaufen oder sie am Nachmittag in der Stadtbücherei lesen. Herr Kessler wandte sich zum Gehen.
»Dachte bloß, weil Sie Autorin sind und Krimis schreiben ...«
»Danke, lieb von Ihnen!«
Melinda sah dem alten Mann nach. Als er am Gartentor angelangt war, sprach er noch immer.
»Armes Mädchen. Sie haben dich wirklich sehr unvorteilhaft abgebildet, Nina. Das hast du nicht verdient!«
Er öffnete das Tor, wollte gerade hindurchgehen, als Melinda ihn zurückrief.
»Herr Kessler, was haben Sie da gesagt? Wollen Sie nicht doch reinkommen? Ich koche uns Kaffee und wir plaudern über die Tote im Stadtwald. Sie könnten mir helfen, meinen Roman weiterzuspinnen!«
Kessler blieb stehen, sah hinüber zu seinem Garten, wo vermutlich seine Frau nach ihm Ausschau hielt, drückte das Tor wieder ins Schloss und kam zu Melinda zurückgetrippelt. Er lächelte selig als er an ihr vorbei in die Hütte ging.
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Pilzgericht (Krimi)
Mystery / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...