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Dr. Rose hatte seine Visitenkarte dagelassen und Melinda angeboten, ihn jederzeit zu kontaktieren, wenn sie Fragen habe, es zu unerwarteten Schwierigkeiten käme oder sie einfach nicht weiter wüsste.

Einen Tag vor ihrer Entlassung kamen Bullerjahn und Arndt mit Kuchen vorbei, doch über Smalltalk und Belanglosigkeiten kamen sie nicht hinaus. Es war nicht zu leugnen: Melinda war nicht länger Teil des Teams und somit nicht mehr berechtigt, interne Ermittlungssachen zu erfahren. Der Kuchen jedoch war lecker wie eh und je. Am frühen Abend verabschiedeten sie sich mit Umarmungen. Zum allerersten Mal.

„Wenn ich dir mit deinen Klamotten helfen soll ..."

Melinda schüttelte den Kopf und lächelte Arndt zu.

„Ich komme schon klar! Ist ja nicht viel. Das meiste steht noch immer in meiner Wohnung in Goslar."

Arndt sah auf seine Schuhe. Wollte er noch was sagen, bevor er ging?

„Was ist mit dir, Arndt? Bleibst du in der Dienstwohnung?"

„Bei Bullerjahn auf dem Flur ist eine Wohnung freigeworden. Mit Blick auf die Schlachterei!"

Er lachte, doch wirklich vergnügt klang es nicht.

„Und du? Zurück nach Goslar?"

„Eher nicht."

„Bleibst du hier?"

„Lass dich überraschen!"


Arndt bohrte nicht weiter nach, wofür Melinda ihm dankbar war. Sie wollte jetzt keine Hilfe, brauchte keine Hilfe. Abstand wollte sie, Luft zum Atmen, einen freien Kopf.
Noch einmal nahm Arndt sie in den Arm, ganz leicht nur. Die Andeutung einer Umarmung.

„Du weißt, dass du dich jederzeit melden kannst!"
Melinda blickte ihn dankbar an.

„Mache ich. Versprochen."

Arndt löste sich von ihr.

„War ne gute Zeit mit dir, Melinda Sieben."

Melinda sah Arndt den Gang hinuntergehen. Bevor er um die Ecke bog, rief sie ihm noch etwas nach.

„Die Zeit mit dir war auch nicht schlecht, Arndt Holler!"

Er blieb stehen, winkte und verschwand.

Melinda ging zum Fenster und sah hinunter auf den beleuchteten Hof. Waren das Schneeflocken? War das Asche? Was fiel da vom Himmel? Im Schein einer Laterne sah sie Bullerjahn stehen und eine Zigarillo rauchen. Der Qualm stieg geruhsam auf und wurde einen Moment später von einer heftigen Windböe weggerissen. Melinda erschien es wie ein Sinnbild ihrer augenblicklichen Lage. Stürmische Zeiten, ohne zu wissen woher und wohin der Wind einen weht.

Sie sah Arndt über den Hof laufen und mit Bullerjahn sprechen. Dieser schien erbost. Er schmiss seine Zigarillo in die Dunkelheit, ballte die Faust und schlug sich damit wieder und wieder in die flache Hand.
Ließ sich dieses Fenster irgendwie öffnen? Melinda ruckelte am Griff und bekam es nach einigen Versuchen auf Kippe gestellt. Sie hörte den Wind heulen, Kälte kroch ihr unter die Kleidung. Ganz nah trat sie an den Fensterschlitz heran und lauschte. Die aufgewirbelte Luft verschluckte Bullerjahns Stimme, doch Melinda verstand seine Worte trotzdem.

„Was bleibt uns denn anderes übrig? Nur noch du und ich. Skagen, der Frischling? Kannste vergessen! Ohne Melinda fliegt uns das ganze Ding um die Ohren. Nächste Woche die Pressekonferenz, dann sollste mal sehen, wie die Leute uns unter Druck setzen. Allein kriegen wir das niemals hin. Steffens oder Petersen ins Team? Das fehlte mir noch. Die schicken uns wahrscheinlich irgendwelche Superspezialisten aus Hannover, die null Ahnung haben von dem, was hier abgeht ..."

Arndt hatte seine Hände in den Manteltaschen vergraben. Jetzt holte Bullerjahn die Zigarillopackung heraus, zerknüllte sie und warf auch sie irgendwo hinter sich ins Gebüsch.

„Diese Dinger, diese Dinger, bringen mich noch um! Scheiße, Arndt, Scheiße! Wir haben es vergeigt. Wir schaffen das nicht!"

Bullerjahn hatte jetzt den Autoschlüssel in der Hand und stapfte in Richtung des Besucherparkplatzes.

„Lass mich lieber fahren!"

Arndt streckte ihm die offene Hand hin und Bullerjahn pfefferte ihm den Schlüssel hinein. Dann verschwanden sie aus Melindas Blickfeld. Was auch immer da vom Himmel fiel. Es wurde stärker.

Sie drückte das Fenster wieder zu und ging zurück in ihr Zimmer. Gerda war da, hatte den Nachttisch abgeräumt und das Abendbrot bereitgestellt. Schwarzbrot, Butter, Käse, Wurst, eine Kanne Hagebuttentee.


„Das war ja ne filmreife Verabschiedung! Finde ich immer total spannend, wie Besucher und Patienten sich begrüßen und verabschieden. Kann man total viel ableiten, also psychologisch, wie sie zueinander stehen und so."

Du solltest dich mit Bea treffen. Ihr würdet wunderbar zusammenpassen, dachte Melinda, während sie eine Reisetasche aus dem Schrank zog und die noch immer unausgepackten Geschenke hineinwarf.

„Sie haben es aber eilig!"

„Sehr eilig."

„Noch vor dem Frühstück bin ich hier weg."

Gerda kam zu ihr und beugte sich zu ihr hinunter, während Melinda noch immer die Sachen vom Tisch räumte.

„Wird aber nicht gehen, wegen der abschließenden Visite, so gegen neun oder zehn!"
Melinda gab ein leises Knurren von sich. Gerda richtete sich wieder auf.

„Na gut, wie Sie wollen!"

Sie öffnete Melindas Schrank und zog eine weitere Tasche heraus.

„Wir Frauen müssen zusammenhalten. Einfach alles rein?"

Melinda nickte ihr zu.

„Alles. Bis auf den Mantel und die Stiefel! Ich verdufte noch heute Abend!"

Gerda blickte sie mit großen Augen an.

„Neue Entwicklungen im Fall Stella Blume?"

„So in etwa."

Melinda dachte an den kleinen, rauen Zweig in ihrer Nachttischschublade. Das Flüstern, es war ein Aufbruchssignal.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt