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Wie in Trance hob Melinda das Handy und schoss ein ums andere Bild während sie sich langsam um sich selbst drehte, bis sie schließlich wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt war. Jetzt kroch sie näher an die Wände heran und fotografierte Details. Die falsche Stella musste Tage, wenn nicht Wochen gebraucht haben, um die unzähligen Symbole und Schriftzeichen auf die Wände zu malen. Kreuze, Augen, Pentagramme verschiedenster Größe, Wirbel, wilde Striche, verwirrende Schriftzeichen, die Melinda entfernt bekannt vorkamen, fürs Erste jedoch unleserlich blieben, vermengten sich vor ihren Augen zu einem übersinnlichen Tanz, der ihre Sinne vernebelte und ihr Denken in Stücke hieb. Zuerst meinte sie, auf magische Weise in Arndts Skizzenbücher gestürzt zu sein, so sehr glichen Malweise, Strichführung und Wildheit der Wandbilder seinen Zeichnungen. In Trance gemalt, in wilder Verzückung, geküsst vom Übersinnlichen und nie ergründbaren Unterbewussten. Weshalb ignorierte Arndt plötzlich die Bedeutung seiner eigenen Kunst? Weshalb lachte er über Melindas Gespür für die Dinge jenseits des Sichtbaren? Mindestens zwanzig Skizzenbücher, die Melinda sich nur allzu gern noch einmal ansehen würde, hatte Arndt während der Kur an der Ostsee mit seinen Visionen gefüllt. Melinda hatte nie den Eindruck gehabt, dass er es ungern getan hatte oder dass es ihm peinlich gewesen sei. Vielleicht war seine Gestaltungswut ein notwendiger Teil der Heilung. Jetzt war er genesen, brauchte all das nicht mehr, ließ es hinter sich.
Melinda ließ das Handy erneut durch den Raum schwirren. Nur noch dieses eine Bild, dort noch ein Detail, hier noch einen Ausschnitt, dann nichts wie raus aus diesem Hexenzimmer!

Melinda schloss die Tür hinter sich und stürzte die Treppe hinunter, wo sie beinahe den alten Gramberg über den Haufen rannte. Schwer atmend blieb sie vor ihm stehen. Sein Gesicht glich einem Fragezeichen.
»Alles in Ordnung?«
Melinda schüttelte den Kopf. Ihre Haare standen wirr in alle Richtungen. Ihre Wangen leuchteten erhitzt. Nein, nichts war in Ordnung.
»Vielleicht gehen Sie besser nicht nach oben. Das Zimmer ist, ich meine, es sieht sehr unordentlich dort aus! Ich schicke jemanden, der das in Ordnung bringt.«
Melinda hatte keinen blassen Schimmer, wer diese Aufgabe erledigen sollte. Tapetenreste zusammenkramen, den Boden fegen, neu tapezieren, die Wände streichen. Ihre ehemaligen Kollegen konnte sie unmöglich bitten, sich darum zu kümmern. Sie wussten nichts von Melindas Alleingang und würden es wahrscheinlich nicht gutheißen, dass sie ohne Rücksprache Gramberg aufgesucht und Stellas Zimmer inspiziert hatte. Geld hatte sie keins, um es Gramberg in die Hand zu drücken, geschweige denn Geld, um einen professionellen Maler zu bezahlen. In wenigen Stunden trudelten die Kollegen aus Hannover im Präsidium ein und spätestens morgen würden sie vor Grambergs Tür stehen. Wie sollte er ihnen den Zustand des Zimmers erklären? Am besten garnicht, weil das Zimmer bis dahin picobello aufgeräumt, frisch tapeziert und gestrichen sein würde. Melinda kam eine Idee wer diesen Auftrag übernehmen könnte. Jemand, der Geld brauchte.
Sie setzte sich auf eine der Treppenstufen und streckte die Beine. Gramberg ließ seinen massigen Körper neben sie fallen.

»Gibt es schon einen Verdacht, wer Stella ...?«
In Grambergs Blick glomm ein Funken Hoffnung. Melinda fuhr sich mit der Hand durchs Haar und richtete ihre Spangen. Sie betrachtete ihre Fingernägel, als sähe sie sie in diesem Moment zum ersten Mal.
»Leider nicht. Und selbst wenn ich etwas wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht sagen.«
Gramberg nickte verständnisvoll. Melinda sah auf ihr Handy. Die 15 Minuten waren längst vorbei. Wo blieb Jannik?
»Hat Ihr Sohn sich wieder ins Bett verkrochen?«
Gramberg wuchtete sich hoch.
»Ich sehe mal nach.«
Melinda hält ihn an der Schulter zurück.
»Das Zimmer. Ich musste es mir genauer ansehen. Stella hat so Zeichen und Symbole auf die Wände gemalt. Ich musste die Tapete runterreißen. Ich ...«
Gramberg schürzte die Lippen. Grinste dann breit.
»Kein Durchsuchungsbefehl. Verstehe!«
»Spätestens morgen werden ein paar Kollegen aus Hannover bei Ihnen auftauchen.«
»Ich schweige wie ein Grab!«
»Auch wäre es gut, wenn Sie Mattias nichts davon erzählen würden, dass ich hier war.«
Er nickte zustimmend.
»Danke Gramberg!«
»Aber nur wenn Sie das Zimmer auf Vordermann bringen lassen!«
»Versprochen!«

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt