Jan Dressler stellte den Motor des Wagens aus und blickte in den Rückspiegel. Während der Fahrt waren die Perücke und der Bart verrutscht. Er richtete sie mit schnellen Handgriffen und war sich plötzlich nicht mehr sicher, dass er mit dieser Verkleidung durchkommen würde. Sollte er die Aktion besser abblasen? Er sah hinaus auf den Parkplatz. Quer vor den Fahrradständern stand der Wagen einer Kopiermaschinenfirma, also waren bereits Techniker im Haus. Das ließ ihn seine Zweifel vergessen. Ein weiterer Techniker würde kaum auffallen. Im Notfall konnte er behaupten, dass die Firma sich in der Adresse geirrt hatte. So etwas kam vor.
Zuerst lief er in Richtung Kantine, wo er vorgab, das Tagesmenü zu studieren, während er den Eingangsbereich, das Treppenhaus und die Leute um sich herum beobachtete. Ein Mann in weißer Kantinenkleidung, der gerade frisch gespülte Tabletts in ein Gestell stapelte, sprach ihn an und fragte, ob er helfen könne. Damit hatte Jan nicht gerechnet und er wusste zunächst nicht was er sagen sollte, lobte dann aber die abwechslungsreiche Speisekarte. Der Kantinenmitarbeiter freute sich und schlug ihm vor, nach getaner Arbeit zum Essen zu kommen, die Küche hätte bis 14 Uhr geöffnet. Wenn er schon einmal einen so freundlichen Menschen traf, sagte sich Jan, dann konnte er ihn auch gleich nach dem Weg fragen.
»Ich suche eine Frau Sieben. Wissen Sie ...?«
Der Mann in Weiß ließ ihn nicht ausreden.
»Frau Sieben ist nicht mehr bei uns.«
Jan schluckte schwer. Melinda war nicht mehr im Präsidium? Was sollte das bedeuten?
»Aber wenn Sie zu den Kollegen von der Kripo wollen, Treppe hoch und den Gang runter!«
Jan bemühte sich um Fassung und dankte flüchtig. Gemächlich schritt er zum Treppenhaus, darauf hoffend, dass ihn niemand weiter ansprach, jeden Blick in fremde Augen vermeidend. Er tat so als blickte er auf seine Uhr am Handgelenk und stieg die Treppe hinauf. Nie und nimmer hatte er damit gerechnet, dass man es ihm so leicht machen würde. Bis auf einen Mann, der den Kopierer reparierte, schien die Abteilung der Kripo verwaist. Die Türen zu den Büros standen weit offen. Jan las die Namen in den Plastikhalterungen. Petersen. Steffens. Holler. Bullerjahn. Dausend. Melindas Schild fehlte. Jan grüßte den Kollegen am Kopierer, doch dieser reagierte nicht. Vor dem letzten Büro am Ende des Flurs blieb Dressler stehen. Ihm wurde warm ums Herz und am liebsten hätte er seine Freude laut herausgebrüllt. Nun war es soweit. Er stand kurz vor dem Ziel. An diesen Stellwänden hingen alle Hinweise, die er benötigte! Hier würde er endlich die Antworten auf seine Fragen finden. Keine weiteren Gespräche mit der verpeilten Melinda, keine sinnlosen Suchaktionen im Wald. Was hatte er sich in den letzten Wochen die Finger wund gebuddelt. Dressler betrachtete die Pflaster auf seinen Handflächen. Er griff in seine Hosentasche und wollte gerade das Handy herausziehen als er hinter sich Schritte hörte. Jemand näherte sich ihm auf hohen Absätzen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Jan drehte sich um. Vor ihm stand eine kräftig gebaute Frau mit kurzen grauen Haaren und violettfarbenem Kleid. Die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt. Ihr Gesicht verriet Misstrauen. Sie trug fliederfarbene Pomps. Jan schluckte erneut. Ganz ruhig, alter Junge. Bloß nicht stammeln. Bloß nicht stammeln. Er bemühte sich um ein aufrichtiges Lächeln. Seine ausgestreckte Hand schien die Frau in Violett zu übersehen.
»Jansen von der Adam Technik GmbH.«
Er zeigte auf seine Schirmmütze. Die Frau in Violett blickte noch skeptischer.
»Sind Sie etwa auch wegen des Kopierers hier?«
Jan fiel nichts Besseres ein, als zu nicken. Eigentlich hatte er vorgeben wollen, die Elektrik in den Büros überprüfen zu müssen, doch nun war er spontan Spezialist für Kopiermaschinen geworden. Die Frau mit den Pomps drehte sich auf dem Absatz.
»Warten Sie kurz!«
Sie verschwand in ihrem Büro. Jan sah auf das Schild neben der Tür. Bea Dausend. Er bekam mit, wie ein Hörer abgenommen und gewählt wurde. Das war seine Chance. Jetzt oder gar nicht. Er zog das Handy heraus, aktivierte den Kameramodus und lief in das Büro mit den Stellwänden. Hinter ihm fluchte der Techniker über den veralteten Kopierer. Während Jan hastig die Fotos, Überschriften und Texte abfotografierte, ohne sie näher zu betrachten, zählte er leise bis zehn. Mehr Zeit hatte er nicht.
Als er die Dausend sagen hörte »Ach, das ist ja interessant!«, war er bereits an ihrem Büro vorbeigeeilt und lief die Treppen hinunter. Unbehelligt verließ er das Präsidium, sprang in seinen Wagen und fuhr mit viel zu hoher Geschwindigkeit vom Parkplatz.
Als er die Stadtgrenze hinter sich wusste und in den Rückspiegel blickte, sah er, dass der Bart fehlte. Er fuhr an den Straßenrand und suchte den gesamten Fahrerraum ab. Kein Bart. Er musste ihn im Präsidium verloren haben. Seiner Freude über den gelungenen Coup tat das keinen Abbruch. Er besaß die Fotos und verfügte damit über den brandaktuellen Ermittlungsstand. Wenn die Polizei nicht wusste, wo Stella ihr Geld versteckt hatte, dann fraß er einen Besen. Er riss sich Mütze und Perücke vom Kopf und schmiss beides auf die Rückbank. Dann stieg er wieder ins Auto und fuhr hinauf zur Jagdhütte.
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Pilzgericht (Krimi)
Misteri / ThrillerDer zweite Fall für Holler & Sieben. Eine Tote im Pilzkorb, ein verliebter Förster, ein mysteriöses Phantom, ein Wald voller Geheimnisse und eine Vergangenheit, die einfach nicht ruhen will. Für Holler und Sieben kann es nur heißen: Zähne zusammen...