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Zurück in ihrem Wagen schaltete sie das Radio an. Ein Sprecher verlas gerade die Nachrichten. Sie schaltete um. Ein Klassiksender. War das Beethoven? Brahms? Sie hatte keine Ahnung, doch das Stück gefiel ihr. Es plätscherte so dahin, ganz ruhig, ganz sanft. Melinda spürte, wie sie sich entspannte, wie ihr Nacken auf die Kopfstütze fiel.

Den Besuch bei Jan Dressler hatte sie sich vorher ganz anders ausgemalt, völlig realitätsfern wie sie jetzt wusste. Und sie glaubte auch zu wissen weshalb. Dressler hatte sie vom ersten Moment an Franky erinnert. Das braune Haar, das markante Kinn, die hochgewachsene Gestalt, die kräftigen Hände. Gestern Abend im Wald war er ihr wie ein Wiedergänger erschienen. Noch immer spürte sie den Nachhall des kurzen Schrecks, den sie bekommen hatte als sie Dressler in seinem Geländewagen sitzen sah.

Was hatte sie sich vorgestellt? In welcher Forsthausromantik war sie abgetaucht? Dresslers Haus war dreckig und unaufgeräumt. Es roch nach schmutziger Wäsche, ungelüfteten Räumen und billigem WC-Reiniger. Wie hatte sie unter diesen Umständen eigentlich den Kuchen und den Tee hinunter bekommen? Sie hatte einfach nicht wahrhaben wollen was sie gesehen, gerochen, gehört hatte. Es durfte nicht sein, was nicht sein konnte. Und dann diese Tierköpfe im Flur.

Weshalb wollte sie ihn wiedersehen? Weshalb hatte sie ihm wie ein Schulmädchen ihre Nummer auf den Arm geschrieben? Melinda wusste es ganz genau: weil er ihr leidtat. Weil sie meinte, er brauche ihre Hilfe. Genau wie Arndt.

Sie zupfte sich die Haare über den Ohren zurecht, löste die grüne Klemme am Hinterkopf und steckte sie über der Stirn zurück ins Haar. Grün. Grün wie die Hoffnung. Sie klopfte mit den flachen Händen aufs Lenkrad.

„Auf geht's, Melinda Sieben!"

Dann verließ sie ihren Wagen und machte sich auf den Weg zu Grambergs Gasthaus, an der Wegschranke vorbei, den mit alten Kastanien bewachsenen Hang hinauf.

Auf halber Höhe klingelte ihr Handy. Es war Arndt. Er hörte sich nicht gut an.

„Was soll ich machen? Melinda, was hast du vorhin gesagt?"

„Arndt, wo bist du?"

„Im Büro. Warum?"

Im Hintergrund hörte sie, wie Mattias Bullerjahn auf ihn einredete. Er solle sich doch bitte was anziehen, er könne nicht in Schlaf-Shorts und T-Shirt hier erscheinen.

„Arndt, du bist in Schlafklamotten ins Präsidium gegangen? Gib mir mal Bullerjahn!"

Sie wollte das nicht. Sie wollte nicht die Mutter Theresa spielen. Arndt Holler und Jan Dressler, beides waren liebenswerte Kerle, aber sie konnte sie nicht retten, nicht, wenn sie es nicht selbst wollten. Es war nicht verboten, ein wenig mehr an sich selbst zu denken. Den Kleingarten, sie wollte den Kleingarten kaufen. Nur für sich. Vielleicht war das eine völlig verrückte Idee, doch sie musste es tun.

„Nun sag doch, Melinda! Irgendwas mit dieser Stella ..."

Wieder war da Bullerjahns Stimme im Hintergrund, dieses Mal deutlich verärgerter. Es klimperte, dann fiel etwas zu Boden. Eine Kaffeetasse vielleicht, oder der Stiftehalter.

„Melinda?"

Bullerjahn war am Hörer.

„Arndt ist hier aufgetaucht, will die Stella-Recherche machen. Doch wenn du mich fragst, der ist noch immer völlig von der Rolle. Der gehört wieder ins Bett."

Melinda hörte, wie Arndt im Hintergrund unverständliches Zeug brabbelte.

„Kannst du ihn zurück in die Wohnung bringen? Und rufe Dr. Grimme bitte an, sie soll Arndt ein Antibiotikum verschreiben!"

Es knackte. Der Hörer wurde zur Seite gelegt. Melinda lauschte dem Disput zwischen Bullerjahn und Arndt. Dann wurde der Hörer wieder aufgenommen.

„Er weigert sich. Er sagt, er will nicht zurück in sein Zimmer."

„Hat er gesagt weshalb?"

„Da sei ein Mann. Ein alter Mann mit einem Bart. Er würde in der Ecke neben dem Kleiderschrank stehen und ihn anstarren."

Melinda ließ die Hand mit dem Handy sinken. Es lief ihr eiskalt über den Rücken. Der Wandersmann war in Arndts Zimmer? Das konnte doch wohl nicht wahr sein!

„Er halluziniert, Mattias! Der spinnt sich was zusammen! Bringst du ihn bitte rüber!"

Stille am anderen Ende. Dann ein tiefes Seufzen.

„Ich wollte gerade zu Gramberg fahren. Wo bist du?"

Melinda sah hinauf in die Kronen der Kastanien, wo sich einzelne Blätter bereits gelb und rot verfärbten. Es war schön hier.

„Ich bin auf dem Weg zum Tatort. Hast du Helmholtz' Bericht schon gelesen?"

„Nur überflogen. Der Karton mit den gesicherten Spuren ist fast leer. Die Ausbeute war mager. Wir beugen uns nachher darüber. Ich frage Bea, ob sie sich ein halbes Stündchen um Arndt kümmern kann. Die beiden haben ja ein besonderes Verhältnis zueinander! Und Bea ist stark. Den bärtigen Alten vertreibt sie mit Leichtigkeit!"

Er lachte. Im Hintergrund sabbelte Arndt etwas von Stella-Bella, der Schönsten, der Reizendsten, der Anmutigsten.

„Stella-Bella, am Ende waren sie schneller, im Keller, Propeller, ..."

Melinda war kurz davor, ihr Vorhaben abzubrechen und zum Präsidium zu fahren.

„Ihr kriegt das hin?"

„Wir kriegen das hin! Übrigens, dieser Skagen ist schon hier. Stand mit Sack und Pack vor meiner Bürotür. Bis später!"

Melinda legte auf. Durch die Bäume erkannte sie das frische Gras der Wiese hinter Dresslers Haus. Sie machte drei Schritte bis sie das hintere Ende seines Gartens einsehen konnte. Jan Dressler hatte erneut begonnen, Holz zu hacken. Den Stapel konnte Melinda selbst von hier oben aus erkennen. Das Holz musste für die nächsten hundert Winter reichen.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt