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An Schlaf war nicht zu denken. Zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Ängste, Befürchtungen, leise Hoffnungen, unscharfe Zukunftspläne. Alles auf einmal. Alles zu wirr. Alles zu bunt.
Melinda griff nach ihrem Handy. Es war kurz vor zwei. 22 nicht angenommene Anrufe, 56 neue Nachrichten. Allein Jan Dressler hatte fünfmal angerufen und ihr sechs Nachrichten geschickt. Offensichtlich liebte er Wald-Emojis. Grinsende Tannen mit Glubschaugen, Hasenköpfe mit aufgerissenen Mündern, Elche mit Hasenzähnen, dumm grinsende Hirsche und lachende Fliegenpilze. Normalerweise verabscheute Melinda Emojis, doch auf unbestimmte Weise freute sie sich heute darüber.
Sie langte neben das Bett, drückte den Rufknopf und bereute es im nächsten Moment schon wieder. Sollte sie Schwester Gerda bitten, das Präsidium zu informieren, oder war es besser, Arndt und Bullerjahn selbst anzurufen? Sie wusste es nicht. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, den Kollegen bei ihren Ermittlungen zu helfen, andererseits sprach da diese innere Stimme zu ihr: „Ruhig Blut, Melinda, die kommen auch ohne dich zurecht! Nur nichts überstürzen! Gib dir die nötige Zeit, wieder auf die Beine zu kommen!"
Die Tür öffnete sich. Schwester Gerda schwebte herein und griff sogleich nach dem Schnabelbecher.
„Sie sind wohl eine kleine Nachteule, was! Durst?"
Nein, Melinda verspürte keinen Durst, sie hatte Fragen und wollte Antworten, mehr als alles andere.
„Gerda, haben Sie von dem Mord gehört?"
Hoffentlich hat sie das, dachte Melinda, hoffentlich hat sie das! Wenn nicht, dann gab es keinen Mord, und dann, ja dann werde ich leider verrückt.
Schwester Gerda senkte den Blick, nickte kaum vernehmlich und setzte sich auf die Bettkante. Sie sprach behutsam, als läge ein weiterer Patient im Zimmer, den sie nicht wecken durfte.
„Eine schreckliche Sache, Frau Sieben. Das arme Mädchen, oh, das arme Mädchen! Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Ein Name wurde da ja nicht genannt, aber mein Kollege, der Norbert, der hat gesagt, er habe gehört, es wäre die Stella, die Köchin vom Gramberg oben im Waldgasthaus!"
Schwester Gerda sah Melinda an, als erwarte sie eine Bestätigung, doch Melinda hielt sich bedeckt.
„Kannten Sie Stella?"
„Nur vom Sehen. Ein bildhübsches Mädchen war das!"
„Und ihr Kollege, der Norbert?"
„Weiß ich nicht! Der mag, glaube ich, lieber Männer!"
Gerda kicherte leise. Wie albern, dachte Melinda. Gottes weite Welt war eben bunt. Sie spürte, wie ihr Hirn schon wieder in den Ermittlermodus schaltete, obwohl sie wusste, dass sie vom Krankenbett aus nicht viel bewirken konnte. Vielleicht ein paar Anrufe tätigen, ein paar Nachrichten verschicken. Das war es dann schon. Von Gerda konnte sie nicht viel erwarten. Die hielt sich für Mutter Theresa und bekam die ganze Woche nichts anderes als Krankenflure zu sehen.

Erleichtert ließ sie den Kopf zurück aufs Kissen fallen und schloss die Augen. Ihre Erinnerung hatte sie nicht im Stich gelassen. Die Puzzleteile, sie passten zusammen. Jemand war ermordet worden, eine junge Frau. Ihr Name: Stella Blume. Die Ermittlungen liefen. Die Zeitung schrieb darüber. Was jedoch war mit dem Wandersmann, der Botschaft auf dem Küchentisch? Melinda versuchte, sich zu erinnern, was auf dem knittrigen Papier gestanden hatte, doch sie bekam die Sätze nicht mehr zusammen.

Schwester Gerda zeigte keine Anstalten, zu gehen. Im Gegenteil, sie rutschte mit dem Hintern auf der Bettkante hin und her, suchte sich eine bequemere Sitzposition.
„Soll ich Ihre Kollegen informieren? Darum haben sie mich nämlich gebeten, sobald Sie wach werden. Die machen Augen, wenn ..."
Melinda bat sie, bis morgen Früh damit zu warten. Es sei ihr zu viel, sie wolle nicht so viele Leute um sich haben, sie kenne die Kollegen. Die würden keine Sekunde verlieren und hier aufkreuzen, egal wie spät es war.
„Aber gucken Sie, Melinda, die ganzen Geschenke!"
Schwester Gerda deutete auf den voll beladenen Tisch, Gestik und Mimik ähnelten denen einer Shopping-TV-Verkäuferin. Melinda erahnte Pralinenschachteln, Bücher, Zeitschriften. Drei bunte Blumensträuße verbreiteten einen süßen Geruch im Zimmer.
„Die müssen Sie aber gernhaben! Können bestimmt kaum erwarten, bis Sie wieder im Dienst sind, was!"
Als Melinda nicht auf Gerdas Plaudergelüste reagierte, stand diese auf, strich sich den Kittel glatt, füllte Melindas Becher noch einmal mit Wasser und verließ das Zimmer. Wie gern hätte sie geschlafen, so wie jeder normale Mensch um diese Zeit. Sie griff nach dem Handy. 2:40 Uhr. Sie rief erneut die Nachrichten auf. Jan Dressler lud sie zu Kaffee und Kuchen ein, im Garten, ohne Befragung, ohne Verhör. Daneben ein zwinkernder Hirsch. Einen Tag später erkundigte er sich, weshalb sie ihm nicht antwortete. Lachender Fliegenpilz. Er schickte Bilder von seinem Hund, seinem Garten, von sich selbst am Hackeklotz. Melinda war sich plötzlich nicht mehr sicher, dass sie ihn wiedersehen wollte. Dann jedoch dachte sie an seine blauen Augen, die gebräunten Unterarme, sein volles Haar.
Sie schrieb ihm eine Nachricht.
Liege im Krankenhaus.
Sie dachte nach und löschte die Nachricht wieder. Dann schrieb sie: Kaffee und Kuchen, liebend gern! In meinem Schrebergarten, sobald die Arbeit weniger wird. Brüllender Hirsch mit Glotzaugen.
Sie löschte den Hirsch und schickte die Nachricht ab. Ein Häkchen.
Kein zweites Häkchen.
Jan Dressler schlief. Melinda konnte warten.

Pilzgericht (Krimi)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt